Walt Whitman in "Zum Gedächtnis des Präsidenten Lincoln":

"Als der Fliederbusch vor jenem Hoftor in Blüte stand
Und der Morgenstern am umtrübten Westhimmel in Nacht erlosch,
Da war ich in Trauer, und Trauer kehrt mir nun mit jedem neuen Lenz."

(Stuttgart 1968, Reclam, Übersetzung Johannes Schlaf, 1907)

Ich wage mich vorsichtig an eine Interpretation:
Lincoln wurde im Frühling ermordet, und er, er die Venus, die einst im Aufgang im Osten den Morgen, die Befreiung von der Sklaverei, brachte, ging nun als Abendstern entkräftet im Westen unter. Das ist ganz im Stil der antiken Astrologie geschrieben.

Lincolns großer Biograph, Carl Sandburg, im Kapitel 69:

"Im Ostzimmer des Weißen Hauses lag der Leichnam eines Mannes, einbalsamiert und vorbereitet für eine große Reise. Der Sarg ruhte auf einem Sockel und darüber wölbte sich ein Baldachin aus schwarzer Seide. Quasten, Kleeblätter, silberne Sterne und silberne Schnüre zierten den Katafalk. Auf einer Silberplatte konnte man lesen:
Abraham Lincoln
Sechzehnter Präsident der Vereinigten Staaten
Geboren am 12. Februar 1809
Gestorben am 15. April 1865"

Der Frühling passt, aber war auch der Abendstern sichtbar?

Mit dem Programm "Home Planet" (John Walker) finde ich, dass am 15. April 1865 die Venus tatsächlich am westlichen Abendhimmel gut zu sehen war, in unmittelbarer Nähe der Plejaden, und nicht weit davon war vielleicht auch der Merkur sichtbar, er stand jedenfalls nach Sonnenuntergang über dem Horizont. Im Osthimmel war in der Nähe der Spika Saturn aufgegangen und ein paar Stunden später der abnehmende Mond.

Ich ahnte es: selbst in seinen poetischen Umschreibungen ist Whitman mit seinen astronomischen Beschreibungen ziemlich präzise, ganz anders als z.B. die Hemingways.


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