von einem "friend of a friend"

Man sagt häufig, in unserer hochtechnisierten Zeit sei kein Raum mehr für Sagen und Märchen. Doch sie entstehen nach wie vor in durchaus modernen Varianten; und ähnlich wie in früheren Zeiten auch, glaubt man ihnen allzu schnell, mich nicht ausgenommen.

Meine Frau kam eines Tages heim und erzählte mir aufgeregt: Soeben habe sie von einer guten Freundin erzählt bekommen, dass deren Freundin etwas Schreckliches passiert sei, dass nämlich beinahe deren Kind bei einem IKEA-Einkauf entführt worden sei. Ich war erschüttert, grübelte tage- und nächtelang, erzählte die Geschichte weiter, dass einer Freundin meiner Frau, genauer gesagt, wiederum irgendeiner Freundin von ihr, aber alles gewiss keine "Spinner", sondern durchaus ernsthafte Leute, eben dieses bei IKEA passiert sei, trug also die Geschichte von einem "friend of a friend" weiter an andere, die es wiederum weiter erzählten usw. - manche, denen ich die Gruselstory vortrug, wussten ohnehin längst davon oder kannten sogar Leute, die die Eltern des beinahe entführten Kindes persönlich kannten. Auch ich war bei aller Skepsis emotional "richtig aufgewühlt" und schrieb schließlich verunsichert diesen Brief an IKEA:


München, 30.3.2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

von zwei Seiten habe ich erzählt bekommen, dass sich bei Ikea Fälle von Kindsentführung ereignet haben sollen. Da wir häufig bei IKEA einkaufen, bin ich deshalb doch etwas beunruhigt, und wüßte gerne, wieviel an der folgenden Geschichte wahr ist.

Erzählt wurde mir, dass man "aus seriöser Quelle, von einem guten Bekannten" erzählt bekommen habe:

Letzten Herbst sei einer Familie bei IKEA-Eching das Kind abhanden gekommen. Als die Eltern nach dem Kind ausrufen lassen wollten, habe IKEA sofort damit reagiert, alle Ein- und Ausgänge abzusperren und die Polizei verständigt, die in einem Großeinsatz von 200 Leuten das gesamte Gebäude durchsuchte, und schließlich auf der Toilette zwei Entführer fand, die das Kind schon umgekleidet und die Haare geschnitten hatten, damit es möglichst unkenntlich werde. Das Kind sollte nach Bulgarien verfrachtet und dort verkauft werden. IKEA habe deshalb so schnell auf die Vermisstenanzeige der Eltern reagiert, da sich ähnliche Vorfälle schon mehrmals ereignet hätten.

Nach dieser Geschichte bleibt natürlich hängen, dass bei IKEA Kinder überhaupt nicht mehr vor Entführungen sicher sind.

Hat es einen derartigen Vorfall gegeben? Ich gehe davon aus, dass die Geschichte durchaus schon in weiten Kreisen kursiert, und IKEA eigentlich ein großes Interesse haben müßte, diesen mehr oder weniger wirklichen Vorfall auch öffentlich klarzustellen.


IKEA-Eching antwortete mir am 4.4.2000:


IKEA hat bereits Anzeige gegen Unbekannt erstattet.

Vor einigen Wochen erschien im "STERN" ein Artikel zu dieser und ähnlichen Erzählungen, der von den Journalisten des Magazins völlig unabhängig recherchiert wurde. Es wird Sie sicher interessieren zu lesen, dass diese Art von Gerüchten immer wieder in verschiedensten Variationen verbreitet werden.

Wir können Sie beruhigen, dass es sich bei dem von Ihnen angesprochenen Vorfall um eine frei erfundene Geschichte handelt.


Der STERN-Artikel heisst "Hort des Horrors" (Nr. 11/2000), geschrieben von Andrea Schaper, den mir IKEA beilegte. Dort steht weiter: "Entführt, rasiert und wiedergefunden: Neueste Variante der modernen Sagen ist die hartnäckig kolportierte Geschichte von den verschwundenen Kindern bei IKEA". Der Völkerkundler (Ethnologe) Ralf Wilhelm Brednich, ehemals Professor an der Uni Göttingen, dann in Neuseeland, hat viele dieser modernen Sagen gesammelt, studiert und veröffentlicht.

"Entscheidend", wird Brednich zu diesen "friend of a friend"-Geschichten zitiert, sei, "dass die Geschichte wahr sein könnte." Und: "Je gruseliger eine solche Geschichte, um so schneller verbreitet sie sich". Die IKEA-Geschichte gehe auf eine bestimmte Legende des 17. Jahrhunderts zurück, vermutet Brednich, und wurde dann den jeweiligen Zeitumständen angepasst, bis aus ihr eben die IKEA-Story wurde. "Friend of a friend"-Geschichten werden mittlerweile ausführlich erforscht, z.B. so: "In den USA bringen Erzählforscher vorsätzlich solche Sagen an der Ostküste in Umlauf und messen, wie lange die brauchen, bis sie an der Westküste sind."

Und die Moral von dieser Geschichte? Vieles in unserer Welt ist schier unglaublich schrecklich, doch leider oft wahr, somit zur Vorsicht mahnend; je gruseliger aber eine solche Erzählung ist, um so größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nur um eine moderne Sage, d.h. nur um eine "friend of a friend"-Erzählung handelt.

Literatur von Ralf Wilhelm Brednich (Auswahl):

  • Die Ratte am Strohhalm (1996)
  • Die Spinne in der Yucca-Palme (1996)
  • Der Dauerbrenner (1999)
  • Das Huhn mit dem Gipsbein (2000)

(Der Text erschien erstmals in der "16. Wald- & Wiesenzeitung" der Koop St. Martin (München), Sommer 2003, herausgegeben vom Elternbeirat dieses Kindergartens.)

(Franz Krojer)


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