Selbst wenn Einhard, der Biograf Karls des Großen, ein großer Lügner gewesen wäre, so folgt daraus nicht, dass Karl nicht existiert habe. Und selbst wenn Karl nicht existiert hätte, so folgt daraus auch noch nicht, dass das 7. bis 9. Jahrhundert "fiktive Zeit" sei. Aus all dem folgte nur, dass die Geschichtswissenschaft bisher über diese Zeit im Dunkeln getappt wäre. Um aber zu zeigen, dass 300 Jahre tatsächlich nicht verflossen sind, bedarf es neben einer passenden weltanschaulichen Motivation, diesen Zeitraum prinzipiell in Frage zu stellen, weiterer Argumente bzw. "Beweise", die Heribert Illig vor allem im Verlauf des julianischen und gregorianischen Kalenders aufzudecken glaubt.
Um jedoch einen Kalenderbeweis zu führen, braucht man erstens die Schaltregeln des herrschenden Kalenders, die beim julianischen und gregorianischen Kalender gut bekannt sind; zweitens muss man aber wissen, ob und wann natürliche Ereignisse mit bestimmten kalendarischen Tagen zusammenfielen, ob und wann z.B. der Frühlingsbeginn auf den 24. oder 21. März fiel, was bereits nicht mehr leicht und eindeutig zu ermitteln ist; drittens muss man sicher sein können, dass über einen Zeitraum von den Reformen Cäsars bis zu denen Gregors, also mehr als 1600 Jahre (nach herkömmlicher Zeitrechnung), tatsächlich keine Tage zu viel oder zu wenig gezählt wurden (bzw. man muss zumindest genau wissen, wann etwas "falsch" gelaufen ist), denn jeder falsch gezählte oder geschaltete Tag in einem Jahr verschiebt die kalendarische Ordnung eben auch für die weiteren Jahre um einen Tag.
Recht seltsam scheint es mir, wenn angenommen wird, dass mehrere Kulturkreise synchron einfach 300 Jahre falsch gezählt haben sollen, was Illig andererseits mittels dreier Tage, die zwischen Cäsar und Gregor unstimmig sein sollen, beweisen will. Wenn einfach 300 Jahre zuviel sein können, wieso soll dann bei nur 3 Tagen über anderthalb Jahrtausende alles völlig korrekt gelaufen sein?
Vielleicht haben wirklich Rom und Byzanz selbst während der Völkerwanderung den kalendarischen Überblick nie verloren; vielleicht kann man z.B. auch mittels Sonnenfinsternissen die zurückliegenden 2 bis 3 Jahrtausende wirklich auf den Tag genau rekonstruieren; wer aber die Chronologie dieses Zeitraums prinzipiell in Frage stellt, braucht gar nicht erst damit anzufangen, 3 Tage gegen 300 Jahre abzuwägen. Das ist Unsinn; und am besten wäre es natürlich, wenn alle derartigen "Kalenderbeweise" einfach aufhörten.
Leider haben sich, wohl durch Illig angestachelt, auch andere Leute darauf eingelassen, Kalenderbeweise gegen ihn aufzustellen - ein Unterfangen, das bestenfalls im Patt enden kann. Peinlicher wird es hingegen, wenn man glaubt, Illig mal ganz schnell nebenher abservieren zu können, ohne sich genauer auf ihn und seine Sache einzulassen. So meines Erachtens geschehen in der Zeitschrift "Archäologie in Deutschland", Heft 4/1999 (Seite 78), wo Dr. Beatrice J. Keller in einem Leserbrief, sich auf den julianischen Kalenderalgorithmus stützend, Illig nachzuweisen versucht, dass der julianische Kalender seit der Zeit Cäsars bis zu Gregor nicht um 13 Tage, sondern nur um 10 Tage abweiche, Illig also falsch rechne. Das Problem dabei ist nur, dass in der abgebildeten Tabelle die Gemeinjahre 365 Tage und 6 Stunden lang sind, was natürlich nicht der Fall ist, denn Kalenderjahre bestehen normalerweise, und sicher im julianischen und gregorianischen Kalender, aus ganzen Tagen - 365 Tage bei Gemein- und 366 Tage bei Schaltjahren. Schade um die umständliche Rechnung, zumal der Kalenderalgorithmus alleine sowieso keine Entscheidung für oder gegen Illigs angebliche Phantomzeit ermöglicht. Anzunehmen ist jedoch, dass Illig aus dem "mathematischen Lapsus" Kellers (siehe ihre Stellungnahme in AiD 1/2000, Seite 75) nur einen weiteren Beweis für seine These abzuleiten gedenkt.
Nun ist es leicht, anderen Dummheiten nachzuweisen, jedoch schon viel schwieriger, nicht selbst noch weitere oder gar größere Dummheiten zu begehen. Bewiesen ist, dass mit dem Kalender nichts zu beweisen ist. Zentrales Argument meines "Offenen Briefs", das gegen die Illigsche Phantomzeit spricht, sind die antiken Überlieferungen von Timocharis und Hipparchos zur ekliptikalen Position der Spika (bezogen auf den Herbstpunkt). Dieses Argumentation soll im Folgenden weiter erhärtet werden, wobei ich abschließend auch die islamische Astronomie mit einbeziehen werde.
Verwendet wird dabei eine "Präzessionsuhr", derart, dass aus der heutigen ekliptikalen Position der Spika und denen vergangener Zeiten auf die dabei verflossene Zeit geschlossen wird. In 25800 Jahren ändern sich nämlich infolge der Präzessionsbewegung der Erde die ekliptikalen Längen der Sterne (üblicherweise auf den äquinoktialen Frühlings- oder Herbstpunkt bezogen) um 360 Grad. Die Spika ist heute vom Herbstpunkt 23,8 Grad bzw. -23,8 Grad entfernt (wenn die antiken Überlieferungen des Abstands der Spika vom Herbstpunkt in positiven Graden ausgedrückt werden). Ptolemäus zitiert im Almagest aus der Schrift des Hipparchos "Über die Veränderung der Solstitien und Äquinoktien", wonach zur Zeit des Timocharis (ca. 300 v. Chr.) die ekliptikale Länge der Spika 8 Grad betragen habe und zur Zeit des Hipparchos (ca. 150 v. Chr.) 6 Grad. (Almagest, VII,2, siehe van der Waerden, Seite 184 und Toomer, Seite 327) Berechnet man mittels Dreisatz aus den ekliptikalen Längenänderungen der Spika von damals bis heute die verflossene Zeit, so ergibt sich eine gute Übereinstimmung mit den kalendarischen Datierungen bzw. keine 300jährige Phantomzeit, wie ich dies im "Offenen Brief" genauer vorgerechnet habe.
Als erstes ist zu fragen, inwieweit wir den Angaben im Almagest zu den Messungen des Timocharis und Hipparchos trauen dürfen. Könnte es sein, dass die "8 Grad bei Timocharis" und "6 Grad bei Hipparchos" einfach gefälscht sind? Völlig auszuschließen ist derartiges natürlich nicht, doch gibt es einige Plausibilitätsüberlegungen, die ziemlich dagegen sprechen. Zunächst einmal: in der mir vorliegenden Ausgabe des Almagest (Toomer), aber auch in der Ausgabe von Manitius und im griechischen Text (Edition Heiberg) kommt diese Textstelle "ohne jede Variante" vor, wie mir Prof. Paul Kunitzsch (München) brieflich versicherte, ist also unzweideutig in den griechischen, arabischen und lateinischen Ausgaben und Übersetzungen überliefert.
Mit einer Ausnahme, auf die mich Sepp Rothwangl (Graz) aufmerksam machte: In "Die Mühle des Hamlet" wird aus der Almagest-Ausgabe von Manitius zitiert, derart, "dass die Spika von dem Herbstnachtgleichenpunkt gegen die Richtung der Zeichen zu seiner [also Hipparchos] Zeit 8 Grad, zu Timocharis' Zeit dagegen nahezu Beta Grad [das wären also 2 Grad] entfernt stand." (Santillana/Dechend, Seite 376) Bezogen auf eine "Präzessionsuhr" sind diese Angaben natürlich völlig sinnlos und würden generell gegen die Verwendung ekliptikaler Längen zur Bestimmung historischer Zeitintervalle sprechen.
Darauf antwortete mir Prof. Hertha von Dechend (Frankfurt/Main) mit einer "Liste von Errata, die eigentlich in Ihrem Exemplar hätte liegen müssen", und in der die Korrektur "zu seiner Zeit 6 Grad, zu Timocharis' Zeiten 8 Grad" vermerkt ist. Diese Errata-Liste stammt jedoch aus der ersten Auflage des Verlages "Kammerer & Unverzagt", und sie blieb offensichtlich in der zweiten Auflage des Springer-Verlags nachlässigerweise unberücksichtigt.
Bei dem somit recht gut überlieferten Wert "6 Grad bei Hipparchos" ist weiterhin hervorzuheben, dass dieser aus dem Buch VII,2 des Almagest stammt, dass aber auch im Buch III,1 auf die ekliptikalen Positionen der Spika zur Zeit des Hipparchos eingegangen wird, wonach damals die Spika eine ekliptikale Länge zwischen fünfeinviertel und sechseinhalb Grad gehabt habe. (Ausgabe Toomer, Seite 135; Zinner, Seite 26) Diese Beobachtungen scheinen zu unterschiedlichen Zeiten gemacht worden zu sein und haben Hipparchos wahrscheinlich erstmals - zusammen mit den Messungen des Timocharis ("8 Grad") - auf die Idee der Präzession der Äquinoktien gebracht. Die "6 Grad zu Zeiten des Hipparchos" sind also an zwei unterschiedlichen Stellen mit etwas unterschiedlichen Zahlenwerten überliefert; eine zufällige Verschreibung an einer Stelle kann also ausgeschlossen werden; wenn, dann hätten die Positionsangaben der Spika systematisch gefälscht werden müssen. Etwa durch Ptolemäus selbst, der von vielen als "Fälscher" angesehen wird? Aber seine Fälschungen beruhen gerade auf den Angaben in den Schriften des Hipparchos. (Nicht Ptolemäus, sondern "Hipparch ist der größte griechische Sternforscher", sagt Zinner, Seite 25, nebenbei bemerkt.)
Denn schlüssig nachgewiesen ist, dass Ptolemäus mit den Werten des Hipparchos nur weitergerechnet hat, und zwar derart, dass er dessen Schätzwert, wonach die ekliptikale Längenänderung 1 Grad in 100 Jahren betrage (anstatt 1 Grad in 72 Jahren), als fixen Wert annahm, um damit die Angaben in seinem Sternkatalog zu berechnen. Mit anderen Worten: die Positionsbestimmungen im Almagest (ekliptikale Koordinaten, aber auch die Zeitpunkte für die Äquinoktien) lassen sich auf Hipparchos zurückführen, sind gar nicht von Ptolemäus beobachtet, sondern nur fortgerechnet worden und deshalb insofern "Fälschungen". Die innere Struktur des Almagest basiert somit auf den Angaben von Hipparchos, und der Nachweis, dass Ptolemäus gefälscht hat, setzt die Richtigkeit der ekliptikalen Positionen bei Hipparchos ausdrücklich voraus.
Dazu schreibt van der Waerden: "Ptolemaios bemerkt übrigens selbst mehrmals, dass nach seinen Annahmen über den Betrag der Präzession (1 Grad in 100 Jahren) die Präzession in der Zeit von Hipparchos bis Ptolemaios fast genau 2Grad40Minuten beträgt. Dieser Betrag war ihm offenbar wichtig. In einem Fall, nämlich bei der Spika, kann man das Ergebnis der Untersuchungen von Newton und Rawlins direkt kontrollieren. Im Sternkatalog des Ptolemaios ist die Länge der Spika Virgo 26Grad40Minuten und die Breite -2 Grad. Subtrahiert man von der Länge 2Grad40Minuten, so erhält man Länge Virgo 24 Grad und Breite -2 Grad, und das sind genau die von Hipparchos beobachteten Werte." (Waerden, Seite 189) Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass im Sternkatalog des Almagest die Tierkreiszeichen 30 Grad lang sind, d.h. "24 Grad Virgo" bedeuten z.B. einen Abstand zum äquinoktialen Herbstpunkt (entsprechend 0 Grad Libra bzw. 30 Grad Virgo) von 30-24 Grad, also 6 Grad, was dem von Hipparchos "zu seiner Zeit" beobachteten Wert entspricht.
Wer "Robert R. Newton" anführt und dabei "Ptolemäus war ein Fälscher" sagt, kommt also nicht umhin, anzuerkennen, dass Ptolemäus auf der Basis von Hipparchos fälschte, und er muss diese Basis bzw. die entsprechenden Messwerte anerkennen. Also: nicht nur die variantenfreie und mehrfache Überlieferung der Hipparchschen Textstellen, sondern auch die innere Struktur des Almagest sprechen für die Richtigkeit von "8 Grad bei Timocharis" und "6 Grad bei Hipparchos".
Charakteristisch für Illig ist, dass er alles mögliche heranzieht, um seine These des fiktiven Mittelalters zu stützen, dabei aber häufig die innere Logik seiner eigenen Argumentation vergisst. Um den Astronomen Wolfhard Schlosser zu widerlegen, beruft er sich in seinem Kapitel "Ptolemäus im Zeugenstand" ausdrücklich auf Robert Newton und sieht dabei nicht, dass er - ähnlich wie schon beim Thema "Geburtstag des Augustus" - damit letztlich einen Beweis gegen seine eigene Behauptung einer 300-jährigen mittelalterichen Phantomzeit führt. Ahnunglos plaudert Illig: "Ihm [gemeint ist Schlosser] widerspricht Robert Newton, der dem größten Astronomen des Altertums gewissermaßen den Prozess gemacht hat. Sein Vorwurf lautet so: Ptolemäus hat trotz eigenen Beteuerns viele seiner 'Beobachtungen' keineswegs selbst beobachtet, sondern errechnet. Aus unbekanntem Grund griff er etwa auf die Hipparchschen Sternorte zurück und hat sie mit einer festen Korrekturgröße für die binnen ca. 300 Jahren fortgeschrittene Präzession umgerechnet." (Illig, Wer hat an der Uhr gedreht?, Seite 145f.) Was er dabei übersieht: der Rückgriff "auf die Hipparchschen Sternorte" spricht nicht nur gegen die Seriosität von Ptolemäus, sondern noch viel mehr gegen die von Illig, weil die Hipparchschen Sternorte in Verwendung als Präzessionsuhr eben keine Phantomzeit belegen.
Die Überlieferung der ekliptikalen Position der Spika durch Timocharis und Hipparchos ist also vertrauenswürdig - und dennoch könnte weiter eingewandt werden, dass die antiken Positionsmessungen sich nicht auf die tatsächlichen Jahrespunkte (Äquinoktien und Solstitien) beziehen, bzw. dass über diese Punkte in der Antike noch Unklarheit herrschte. Dieses Argument verdient insofern Beachtung, da - vor allem aus babylonischer Überlieferung stammend - auch bei den griechischen Astrologen und Astronomen unterschiedliche Angaben über die Jahrespunkte bei den Zeichen Krebs, Waage, Steinbock und Widder gemacht wurden, und zwar waren die Werte 8 Grad, 10 Grad und 15 Grad relativ zu den Anfängen der Sternzeichen üblich. Diese unterschiedlichen Angaben können auch als ein Indiz dafür angesehen werden, dass bereits die Babylonier eine Ahnung über das Verrücken der Jahrespunkte infolge der Präzession hatten, aber eben noch keine klare quantitative Vorstellung davon entwickeln konnten. Dies trifft jedoch nicht für die Astronomen Timocharis, Hipparchos und Ptolemäus zu, im Gegenteil, ihre Vorgehensweisen, Messungen und Ansichten zeigen, dass daraus ein viel klarerer Begriff von der Präzession der Äquinoktien entstand. Kurz gesagt: Hipparchos "benützte dazu nur griechische Beobachtungen und berücksichtigte die verschiedenen babylonischen Ansätze der Jahrespunkte nicht." (Zinner, Seite 27)
Nun zu den Einzelheiten, zuerst Ptolemäus. Dieser schreibt im Tetrabiblos I,11, nach der Erwähnung der Wendekreiszeichen Krebs und Steinbock: "Two signs are called equinoctial, the one which is first from the spring equinox, Aries, and the one which begins with the autumnal equinox, Libra; and they too again are named from what happens there, because when the sun is at the beginning of these signs he makes the nights exactly equal to the days." (Ausgabe Robbins, Seite 67) Falls der Einwand käme, dass der Tetrabiblos möglicherweise gar nicht von Ptolemäus stamme, kann ich natürlich auch eine Definition aus dem Almagest II,7 bringen: "We shall use the names of the signs of the zodiac for the twelve divisions of the ecliptic, according to the system in which the divisions begin at the solsticial and equinoctial points." (Toomer, Seite 90) Diese Angaben distanzieren sich von babylonischen Fixierungen und legen eine "tropische Ekliptikteilung" fest, "in der die Anfangspunkte dieser vier Zeichen per definitionem mit den Solstitien und Äquinoktien zusammenfallen." (Waerden, Seite 81) Dies bedeutet aber auch, dass infolge der Präzession z.B. der Anfangspunkt des Zeichens Waage zur Zeit des Ptolemäus nur noch ca. 2 Grad von der Spika entfernt war, also das Sternzeichen Waage damals schon ziemlich weit in das Sternbild der Jungfrau gewandert war. (Ein Effekt, der sich bis heute so verstärkt hat, dass die astrologischen Tierkreiszeichen mittlerweile zu den entsprechenden astronomischen Sternbildern um ca. 30 Grad, also um ein Zeichen verschoben sind.)
Im Almagest finden wir aber nicht nur Hinweise, dass die Sternpositionen relativ zu den Äqunoktialpunkten gemessen wurden, sondern auch wie sie gemessen wurden und welche Modelle bzw. Wirklichkeitsannahmen dahinter standen. Ausgangspunkt ist die Bewegung der Sonne im Laufe eines Jahres, wodurch die Ekliptik und speziell auch die Äquinoktien (welche relativ leicht zu bestimmen sind) und die Solstitien (welche schwieriger zu bestimmen sind) festgelegt sind. Im Almagest III,1 zitiert Ptolemäus aus Hipparchos' Schrift "Von der Länge des Jahres" und erörtert, wie dieser bereits sehr genau die Jahrespunkte und auch die unterschiedlichen Längen der Jahreszeiten (infolge der elliptischen Erdbahn, wie wir heute wissen) kannte, mit anderen Worten, die ekliptikale Länge der Sonne war dadurch für jeden Tag des Jahres interpolierbar und konnte in Sonnentafeln aufgezeichnet werden. Nun kann man aber Sternpositionen nicht direkt relativ zur Sonne messen, da diese die Sterne überstrahlt, und selbst totale Sonnenfinsternisse in einer Gegend nur selten auftreten und von kurzer Dauer sind. An die Theorie der Sonnenbewegung schließt sich nach Hipparchos-Ptolemäus deshalb die Theorie der Mondbewegung an und daran anschließend die der Fixsternsphäre mit der Erkenntnis, dass diese zwar in sich unbewegt bleibt, aber sich relativ zu den Äquinoktialpunkten als Ganzes verschiebt - eben die Präzession der Äquinoktien. Und so wird vorgegangen: bei einer Mondfinsternis schneidet die Mondbahn die Ekliptik (hat also die ekliptikale Breite 0) und der Mond steht dabei der Sonne genau gegenüber, seine ekliptikale Länge ist also die Sonnenlänge plus (oder auch minus) 180 Grad. Die ekliptikale Breite und Länge des Mondes sind nunmehr auch bekannt, und es können nun Positionsbestimmungen der Sterne relativ zum Mond erfolgen, wozu sich Sterne wie die Spika besonders eignen, da diese nur 2 Breitengrade von der Ekliptik entfernt ist, sie also dem Mond sehr nahe kommen kann. Diese Überlegungen bzw. Messverfahren basieren auf einem Wirklichkeitsmodell, wonach eine Mondfinsternis durch den Erdschatten zustande kommt, setzen also bereits ein hinreichend großes astronomisches Wissen über die geometrischen und physikalischen Verhältnisse im Weltraum voraus. "Wie ist Hipparchos bei seinen Beobachtungen vorgegangen? Nach den Worten des Ptolemäus hat er zunächst eine Mondfinsternis beobachtet. In der Mitte der Finsternis hat er, wie ich annehme, den Längenunterschied zwischen Spika und dem Mond beobachtet, oder noch besser: er hat diesen Längenunterschied am Anfang und am Ende der Finsternis gemessen und das Mittel aus beiden Messungen genommen. Sodann hat er, wie ich vermute, aus einer Sonnentafel die Länge der Sonne in der Mitte der Finsternis entnommen. Zu dieser Zeit stand der Mond der Sonne genau gegenüber, also kannte er auch die Mondlänge. Da er den Längenunterschied zwischen Spika und Mond kannte, konnte er die Länge der Spika berechnen und mit der von Timocharis gemessenen Länge vergleichen." (Waerden, Seite 184f)
Überlieferung, Messverfahren und Modelle sprechen also eindeutig dafür, dass sich die Timocharis, Hipparchos und Ptolemäus auf eine "tropische Ekliptikeinteilung" beziehen und ihre Werte deswegen mit den heutigen ekliptikalen Längen verglichen werden dürfen. Einen Einwand gilt es aber noch zu erörtern: die Nähe des Erdmondes bewirkt nämlich einen merklichen parallaktischen Effekt, was dazu führt, dass die Zenitdistanz des Mondes am Horizont um fast ein Grad geozentrisch falsch gemessen wird, falls diese "Horizontalparallaxe" unberücksichtigt bleibt. (Stumpff/Voigt, Seite 189f) Allerdings: steht der Mond höher über dem Horizont, dann wird dieser Wert kleiner, und außerdem verteilt sich dieser maximal 1 Grad große Fehler durchschnittlich auf die ekliptikale Länge und Breite gleichermaßen, d.h. ein solcher Messfehler wird kaum ein halbes Grad überschreiten und in vielen Fällen, wenn Mond und Sterne nicht in Horizontnähe beobachtet bzw. vermessen werden, ganz zu vernachlässigen sein. Darüber hinaus war dieser Parallaxeneffekt bereits den griechischen Astronomen bekannt (Almagest V,11, Toomer Seite 243) und ermöglichte eine gute Bestimmung der Entfernung Erde-Mond. In unserem Fall, wo es darum geht, ob 300 Jahre zuviel in der Zeitrechnung sind oder nicht, was einer ekliptikalen Längenänderung von 4 Grad entspräche, kann dieser Effekt generell sowieso und selbst bei ungünstigen Fällen noch vernachlässigt werden.
Schließlich spricht auch das folgende formale Argument sehr dafür, dass die erwähnten griechischen Astronomen eine "tropische Ekliptikeinteilung" verwendeten und die Jahresfixpunkte nicht auf babylonische Überlieferungen gründeten. Denn es wird überliefert, dass die ekliptikale Breite der Spika konstant mit -2 Grad beobachtet wurde. Wären aber die Messungen von Timocharis und Hipparchos auf einen falschen Herbstpunkt bezogen gewesen, also 8, 10 oder 15 Grad davon entfernt, dann wäre die Breite der Spika eine ganz andere geworden, wie man sich anhand einer Skizze, bei der sich Himmelsäquator und Ekliptik in einem Winkel von 23 bis 24 Grad schneiden, vergewissern kann, bzw. nur unter der Annahme einer völlig falschen Neigung der Ekliptik zum Himmelsäquator wäre das korrekte Ergebnis "konstant -2 Grad" für die ekliptikale Breite der Spika nur völlig zufällig zu erhalten gewesen.
Nochmals mag Illig einwenden, dass nicht einmal die von Ptolemäus überlieferten Werte für die Äquinoktien stimmen bzw. um bis zu 36 Stunden falsch lägen (Illig, Wer hat an der Uhr gedreht, Seite 146; Waerden, Seite 260). Aber, wie Illig selbst sagt, sind diese Werte ebenfalls wieder "fabriziert", d.h. Ptolemäus hat ähnlich wie bei den Präzessionslängen wiederum nur die Werte von Hipparchos verwendet und auf seine Zeit hochgerechnet. "Wenn man die so gewonnenen Zeiten auf ganze Stunden rundet, so erhält man in allen Fällen genau die von Ptolemaios angegebenen Zeiten." (Waerden, Seite 261) Aber dies hatten wir bereits: die systematischen Fehler Ptolemäus' bestätigen nur die Beobachtungen des Hipparchos. Zu fragen ist allerdings, wieso Ptolemäus so umfassend gefälscht hat. Nach van der Waerden hat Ptolemäus zunächst mit den Werten von Hipparchos gearbeitet, insbesondere mit der zu kleinen Präzession von 1 Grad in 100 Jahren (anstatt 72 Jahren). Hätte er nun tatsächlich die Äquinoktien und die Präzession beobachtet und eigene Messungen verwendet, dann hätte er auch seine ganze komplizierte Planetentheorie neu schreiben müssen. "Er hat den bequemeren Weg gewählt und fingierte Beobachtungen vermerkt, die auf Grund der Jahresdauer des Hipparchos berechnet waren." (Waerden, Seite 262, siehe auch Seite 279)
Zusammengefaßt:
1. Die Überlieferung für die ekliptikalen Längen der Spika "8
Grad bei Timocharis" und "6 Grad bei Hipparchos" ist
variantenfrei in allen Almagest-Ausgaben belegt.
2. Es wird ausdrücklich von einer "tropischen
Ekliptikteilung" gesprochen und kein Bezug auf andere
babylonische Überlieferungen genommen.
3. Modelle, Theorien und Messverfahren bezeugen, dass mittels
Sonnenlängen und Mondfinsternissen die tatsächlichen
Äquinoktialpunkte ermittelt wurden und dazu relativ die
Positionen der Sterne.
4. Überlieferungen wie "die Spika hat eine konstante
ekliptikale Breite von -2 Grad" sind nur verständlich und
empirisch ermittelbar, wenn sich dieser Wert auf die
tatsächlichen Äquinoktialpunkte bezieht.
5. Die überlieferten ekliptikalen Längen der Spika können
also mit ziemlicher Sicherheit mit ihren heutigen Längen
verglichen werden, was aber, wie bereits im "Offenen Brief"
gezeigt, die These von einer 300-jährigen Phantomzeit
widerlegt.
Im "Offenen Brief" habe ich auch die Vermutung geäußert, dass man aus den Eigenbewegungen der Sterne evt. auf entsprechend verflossene Zeiten schließen könnte, ohne zu wissen, dass die Eigenbewegungen schon öfter für verschiedene Analysen hergenommen worden waren - und zwar erstmals bereits 1718 durch Edmond Halley, der damit die Eigenbewegung der Sterne überhaupt entdeckte:
"1718 bemerkte Halley beim Studium der Sternörter, dass sich
wenigstens drei Sterne, nämlich Sirius, Prokyon und Arcturus,
nicht an den von den Griechen bezeichneten Stellen befanden.
Die Differenz war so erheblich, dass sich eigentlich weder
die Griechen noch Halley geirrt haben konnten. Beispielsweise
fand Halley den Arcturus einen ganzen Grad (zweimal den
scheinbaren Durchmesser des vollen Monds) von dem von den
Griechen bezeichneten Ort.
Daraus schloss Halley, dass sich die Sterne fortbewegt
hatten. Sie waren also doch keine echten Fixsterne, sondern
hatten eine 'Eigenbewegung'. Verglichen mit den
Eigenbewegungen der Planeten waren die der Sterne
außerordentlich langsam und ließen sich nicht von einem Tag
zum anderen oder von einem Jahr zum anderen feststellen. Aber
von Generation zu Generation macht sich die Eigenbewegung der
Sterne doch am Himmel bemerkbar.
Die Tatsache von Eigenbewegungen der Sterne versetzte der
Hypothese vom feststehenden Himmel einen harten Schlag.
Zumindest einige Sterne waren nicht am Himmelsgewölbe
befestigt, und schnell gewann die Meinung an Gewicht, dass
sich alle Sterne bewegten, ja, dass in Wirklichkeit gar kein
Gewölbe existierte." (Asimov, Seite 44)
Dazu habe ich mir den Arcturus genauer angesehen. Aus den Angaben im Sternkatalog von "Meyers Handbuch Weltall" (Seite 216) bzw. mit neueren, aber fast identischen Angaben aus "The Hipparcos Main Catalogue" (http://cadcwww.dao.nrc.ca/wdb/astrocat/hip_main) folgt, dass der Betrag der Eigenbewegung des Arcturus jährlich 2,3 Bogensekunden beträgt, was in 2000 Jahren 1,2 Grad ergibt, in Übereinstimmung mit der Halleyschen Entdeckung einer Eigenbewegung von etwa einem Grad zwischen ihm und "den Griechen" (also dem Sternkatalog von Hipparchos-Ptolemäus).
Das spricht zunächst für die Qualität der griechischen Beobachtungen, könnte aber auch gegen mich sprechen, wenn nämlich die Spika ebenfalls eine große Eigenbewegung von 1 bis 2 Grad in 2000 Jahren hätte. Die Längenänderung der Spika infolge der Präzession wäre nämlich dann von ihrer Eigenbewegung überlagert, wodurch meine Überlegungen zumindest den Reiz des Einfachen verlören oder sogar ganz hinfällig würden. Ein Blick in die genannten Sternkataloge zeigt aber, dass die Eigenbewegung der Spika wesentlich kleiner als die des Arcturus ist und in 2000 Jahren gerade 0,1 Grad beträgt, was gegenüber ihrer ekliptikalen Längenänderung völlig zu vernachlässigen ist.
Auch aus neuerer Zeit gibt es verschiedene statistische Untersuchungen zum Sternkatalog des Ptolemäus betreffs Eigenbewegungen, wobei bei den "Zeitensprünglern" Fomenko gerne genannt wird (Illig, Wer hat an der Uhr gedreht, Seite 147), da seine Untersuchungen belegten, dass der Sternkatalog aus dem 6. bis 13. Jahrhundert stamme. Aber es besteht dabei ein Problem: Fomenko nimmt eine Phantomzeit von 1000 Jahren an, so dass Illig "einen erheblichen Widerspruch zwischen meinen 300 und Fomenkos 1.000 Jahren" zugibt (Illig, Tropfen, Faß und Überlauf, Seite 640) - ein Vorwurf, den Illig auch an den verstoßenen Topper weiterreicht, der "das ganze erste Jahrtausend zur Disposition stellt." (ebenda, Seite 643)
Dr. Benno van Dalen vom Institut für Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Frankfurt hat mich auf einige weitere Literaturstellen zu derartigen statistischen Untersuchungen hingewiesen. Z.B. führten Untersuchungen der russischen Forscher Efremov und Pavlovskaya 1989 zum Ergebnis, "dass der Sternkatalog keine mittelalterliche Fälschung ist und eher von Hipparch stammt".
Die statistischen Untersuchen des ptolemäischen Sternkatalogs anhand der Eigenbewegungen führen also zu ziemlich widersprüchlichen Ergebnissen und diese Widersprüche scheinen - korrekte statistische Verfahren vorausgesetzt - auch daher zu rühren, dass unterschiedliche historische Annahmen und Modelle den jeweiligen Statistiken zu Grunde liegen, z.B. dass eine bestimmte antike Messgenauigkeit angenommen wird. Oder: es wird angenommen, dass der gesamte Sternkatalog im Almagest von Hipparchos stamme, wogegen es durchaus auch Hinweise gibt, dass er aus mehreren Sternkatalogen zusammengesetzt sein könnte: "Insgesamt enthält der Sternkatalog 1022 Sterne. Es ist sehr gut möglich, dass einige davon noch nicht im Katalog des Hipparchos enthalten waren, sondern später beobachtet wurden, etwa von Menelaos. Ptolemaios berichtet nämlich im dritten Kapitel des sechsten Buches über Sternbeobachtungen, die Menelaos in Rom im Jahre +98 gemacht hat. Es ist möglich, dass Ptolemaios selbst auch einige Sterne beobachtet hat." (Waerden, Seite 281)
Ich enthalte mich eines Urteils in diesen Fragen und reiche die Empfehlung van Dalens weiter, hierzu ggf. Grasshoffs "The History of Ptolemy's Star Catalogue" (Springer 1990) zu lesen. Eine Diskussion, ob wir es gar mit einer 1000jährigen Phantomzeit zu tun haben, würde den Rahmen, die angebliche Illigsche 300-jährige Phantomzeit zu erörtern, sprengen und ganz und gar ins Willkürliche abgleiten lassen, was, soweit ich Illig verstehe, auch nicht in seinem Sinne ist, da ihm seine "297 Jahre Phantomzeit" sehr wichtig sind. Meine Überlegungen zur Änderung der ekliptikalen Länge der Spika beruhen darüberhinaus nicht auf dem Sternkatalog, sondern entstammen anderen Abschnitten des Almagests oder beziehen sich zumindest nicht auf Eigenbewegungen, sondern, wie bei Newton, auf ekliptikale Positionen. Gezeigt werden konnte immerhin, dass die Eigenbewegung der Spika so klein ist, dass sie ihre ekliptikale Längenänderung nicht überlagert, so dass es weiterhin zulässig ist, die antiken ekliptikalen Längenangaben der Spika mit den heutigen ins Verhältnis zu setzen. Die Rechnung bleibt einfach und nachvollziehbar und führt zu keiner 300-jährigen Phantomzeit.
Damit ist diese Untersuchung eigentlich abgeschlossen. Ich habe aber noch eine Zugabe parat, nämlich die islamisch-arabische Astronomie betreffend. Die Entstehung und erste Ausbreitung des Islams fällt ziemlich genau mit der Phantomzeit Illigs zusammen, d.h. in das 7. bis 9. Jahrhundert. Die archäologischen Funde und sonstigen Überlieferungen aus dieser Zeit müssen deshalb nach Illig für den Islam genauso in Frage gestellt werden wie für die Zeit Karls des Großen (und natürlich ebenso die historisch überlieferten Schnittpunkte beider Kulturen, wie z.B. diplomatische Begegnungen oder Schlachten), und so "bleibt der dringende Verdacht, dass auch die arabische Welt bis ins beginnende 10. Jahrhundert hinein fiktiv ist." (Illig, Wer hat an der Uhr gedreht?, Seite 106)
Nun ist aber insbesondere das 9. Jahrhundert als Blütezeit für die islamische Astronomie überliefert. Man kann natürlich versucht sein, die astronomischen (und mathematischen) Werke und Überlieferungen auf außerhalb dieses Zeitraums zu verlegen, etwa danach, oder in Anlehnung an Topper, der die Entstehung des Islams mit dem Konzil von Nicäa und dem Arianismus in Verbindung bringt, gar ins 4. Jahrhundert.
Das Problem dabei ist nur, dass die astronomischen Texte nicht nur in islamischer Chronologie (Hedschra), also beginnend mit dem Jahr 622 n. Chr. in unserer Chronologie, überliefert sind, sondern dass die Sternkataloge und -tafeln mit Präzessionsangaben bzw. den entsprechenden ekliptikalen Koordinaten versehen sind. Im 8. und 9. Jahrhundert wurden verschiedene Almagest-Übersetzungen gemacht, zunächst aus dem Syrischen, später auch direkt aus dem Griechischen, und die arabischen (oder zumindest arabisch schreibenden) Astronomen des 9., 10. und 11. Jahrhunderts beziehen sich auf diese Übersetzungen, die sie auch textkritisch untersuchen. (Vgl. hierzu Kunitzsch, Der Almagest, sowie seine Übersetzung des Ibn as-Salah.)
Aber der Almagest wurde nicht nur übersetzt, sondern es wurden auch eigene Beobachtungen angestellt, die u.a. zu einem verbesserten Wert einer Präzession von zunächst einem Grad in 66 Jahren führten, anstatt der 100 Jahre, die Ptolemäus angenommen hatte (und so von den antiken Astronomen weitergeführt wurde). Im Jahr 829/30 wurden dann die auf eigenen Beobachtungen beruhenden "tabulae probatae" bzw. "az-Zig al-mumtahan" herausgebracht (Kunitzsch, Seite 57), die allerdings verlorengegangen sind. Üblich war es seither bei den arabischen Astronomen, den verbesserten Präzessionswert von 1 Grad in 66 Jahren für die eigenen Sternkataloge und -tafeln zu verwenden.
Al-Battani gab für den 1. März 880 einen aus 533 Sternen bestehenden Katalog heraus, dessen Längen um 11Grad10Minuten gegenüber dem Almagest erhöht sind (Kunitzsch, Seite 49f). Rechnen wir nach:
Zwischen Ptolemäus (150 n.Chr.) und Al-Battani (880 n. Chr.) sind kalendarisch 730 Jahre vergangen. Entsprechend den Präzessionsangaben und den verwendeten arabischen Traditionen für die Präzessionskonstante sind aber 66 Jahre/Grad * 11Grad10Minuten verflossen, was 739 Jahre ergibt. Die kalendarisch datierten 730 Jahre zwischen Ptolemäus und al-Battani sind also tatsächlich verflossen und kein kalendarischer Fehler bzw. enthalten zumindest keine fiktive Zeit der Größenordnung 300 Jahre.
Man kann auch so rechnen, dass man aus diesen arabischen Angaben z.B. die damalige ekliptikale Länge der Spika ermittelt und mit ihrer heutigen Länge vergleicht, und kommt damit und mittels "360 Grad Präzession entsprechen 25800 Jahre" zu ähnlich übereinstimmenden Werten und analogen Schlüssen. Derartiges Schließen ist deswegen berechtigt, weil wir es hier mit einer eigenständigen Beobachtungstradition der arabischen Astronomie und nicht einfach nur mit hochgerechneten Werten aus der Antike zu tun haben, die überlieferten ekliptikalen Längen somit den wahren ekliptikalen Längen weitgehend entsprechen.
Wir finden bei Kunitzsch und Ibn as-Salah noch mehrere solcher Angaben, z.B. für das "Fixsternbuch" des as-Sufi, das auf den 1. Oktober 964 datiert ist und dessen Längen um 12Grad42Minuten gegenüber dem Almagest erhöht sind (Kunitzsch, Seite 51). Kalendarisch datiert sind zwischen Ptolemäus und as-Sufi 814 Jahre vergangen, während sich aus den Präzessionsangaben ein dazu passender Wert von 841 Jahren ergibt.
Zum einen sehen wir also, wie sich die arabischen Astronomen des 9. und 10. Jahrhunderts mit ihrer etwas zu schnellen Präzessionskonstante ins Verhältnis zu Ptolemäus (der eine zu langsame Präzessionskonstante verwendete) setzten, und können bereits hier eine gute Übereinstimmung zur herkömmlichen Chronologie feststellen, zum anderen können wir die Präzessionsangaben der arabischen Astronomen auch ins Verhältnis zu den heutigen setzen, und finden auch hier wieder die herkömmliche Chronologie bestätigt. Die Präzessionsangaben der arabischen Astronomen aus dem 9. und 10. Jahrhundert stimmen also sowohl relativ zu Ptolemäus als auch relativ zu uns mit den herkömmlichen chronologischen Datierungen überein und liefern keinen Hinweis auf einen fiktiven Zeitraum von 300 Jahren.
Schließlich und vorausgreifend, da man nie weiß, ob die "Zeitensprüngler" nicht auch noch in der Neuzeit auf "fiktive Zeiten" stoßen werden (und alles vorherige in Frage stellen), sei noch eine Messung des Kopernikus aus dem Jahre 1525 erwähnt. Dieser stellte damals fest, dass die Spika 17Grad21Minuten vom Herbstpunkt entfernt stand. (Zinner, Seite 203) Kalendarisch sind seitdem 475 Jahre verflossen, und wenn wir den heutigen ekliptikalen Längenwert der Spika zu 23,8 Grad annehmen, so ergibt sich eine Graddifferenz von 6,5 Grad, was 466 Jahren entspricht (bei einem vollen Präzessionsumlauf von 25800 Jahren). Die Präzessionsuhr widerlegt also präzise Illigs These von einer "fiktiven Zeit", zumindest gilt dies seit "Timocharis' Zeiten" bis heute, einschließlich der Zeit Karls des Großen. Nirgends finden wir einen astronomischen Hinweis auf 300 Jahre fiktiver Zeit. Das "erfundene Mittelalter" ist eine Erfindung Illigs.
München, im Mai 2000
Asimov, Isaac: Weltall ohne Grenzen. Von der flachen Erde zum gekrümmten Raum, Wiesbaden 1969.
Ibn as-Salah: Zur Kritik der Koordinatenüberlieferung im Sternkatalog des Almagest (Hrsg. Paul Kunitzsch), Göttingen 1975.
Illig, Heribert: Wer hat an der Uhr gedreht?, München 1999 (Econ).
Illig, Heribert: Tropfen, Faß und Überlauf, Zeitensprünge 4/98, Seite 631-643.
Karkoschka, Erich: Atlas für Himmelsbeobachter, Stuttgart 1997 (Kosmos).
Krautter, Joachim u.a.: Meyers Handbuch Weltall, Mannheim usw. 1994 (7. Auflage).
Kunitzsch, Paul: Der Almagest, Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung, Wiesbaden 1974.
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Santillana, Giorgio de und Hertha von Dechend: Die Mühle des Hamlet, Wien-New York 1994 (Springer, zweite Auflage).
Stumpff, Karl und Hans-Heinrich Voigt: Fischer-Lexikon Astronomie, Frankfurt/M. 1978.
Topper, Uwe: Erfundene Geschichte, Unsere Zeitrechnung ist falsch, München 1999 (Herbig).
Toomer, G. J.: Ptolemy's Almagest, Translated and annotated by G. J. Toomer, Princeton 1998 (Princeton University Press).
Waerden, B. L. van der: Die Astronomie der Griechen, Darmstadt 1988 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Zinner, Ernst: Entstehung und Ausbreitung der copernicanischen Lehre, München 1988 (zweite Auflage, Beck).