Im Februar 2000 wurde im Internet-Diskussionsforum "de.sci.geschichte" eine Frage nach antiken astronomischen Quellen gestellt ("Astronomische Ereignisse in der Antike"), wobei ich als Hauptquelle den Almagest des Ptolemäus nannte. Günter Lelarge, übereifriger Illig-Anhänger, konterte damit, dass der Almagest aus dem "hohen Mittelalter" stamme und gab dafür das 15. Jahrhundert an, wo dieses Werk zum ersten Mal ins Lateinische übersetzt und gedruckt worden sei. Selbstverständlich gab es aber davor unter anderem eine handschriftliche griechisch-byzantinische, sowie arabische und lateinische Überlieferung des Almagest, die gut und umfangreich dokumentiert und ausgewertet ist (Kunitzsch). Die erste Übersetzung aus dem Arabischen ins Lateinische stammt aus dem Jahr 1175, und zwar von Gerhard von Cremona, "in der das Abendland das ptolemäische Handbuch hauptsächlich kennenlernte und bis zum Aufkommen der besser verständlichen Renaissance-Ausgaben ständig benutzte." (Kunitzsch, Einleitung zu Ibn as-Salah, Seite 10)
Von Lelarge wurden noch weitere, sich auf den Sternkatalog im Almagest beziehende Einwände gebracht, die in Kreisen der "Zeitensprüngler" zu kursieren und auf Fomenko zurückzugehen scheinen. Diese Einwände sind immerhin ernster zu nehmen und gedanklich reizvoller. Sie lauten:
1. Der erste Stern im Sternkatalog des Almagest ist unser heutiger Polarstern. Dieser war aber in der Antike wegen der Präzession noch gar nicht Polarstern, sondern wurde dies erst im hohen Mittelalter.
2. Die Sternkoordinaten im Sternkatalog des Almagest sind so, dass darin die atmosphärische Refraktion berücksichtigt ist, die jedoch in der Antike noch unbekannt war und erst am Ausgang des Mittelalters entdeckt wurde.
3. Im Sternkatalog des Almagest ist der Stern "Achernar" im Sternbild Eridanus aufgelistet, der aber in der Antike noch gar nicht sichtbar sein konnte, da er viel zu weit südlich stand.
Zu 1.:
Wer sich überhaupt etwas unter "Präzession" vorstellen kann, könnte dieses Argument durchaus stichhaltig finden, da unser heutiger Polarstern vor ca. 2000 Jahren noch viel weiter vom Himmelsnordpol entfernt stand (damals ca. 8 Grad, heute weniger als ein Grad). Wieso aber beginnt der Sternkatalog des Almagest trotzdem mit unserem Polarstern, dem hellsten Stern des Kleinen Bären bzw. Kleinen Wagens?
Zunächst dieses:
Der Sternkatalog des Almagest ist dreigegliedert: die Sternbilder
der nördlichen Hemissphäre, der Ekliptik und der südlichen
Hemisphäre, wobei die Ortsangaben in ekliptikalen Längen und
Breiten gemacht sind (Toomer, Seite 341). Der Sternkatalog beginnt
mit dem nördlichsten Sternbild.
Was aber war in der späteren Antike das nördlichste Sternbild? Der Himmelsnordpol lag damals in der Nähe des schwachen Sterns 78 Camelopardalis (Giraffe), eine für das bloße Auge fast sternenlose Gegend. Dieses Sternbild gab es aber in der Antike noch gar nicht; es wurde erst in der Neuzeit aus systematischen Gründen "erfunden". Nördlichstes Sternbild war deshalb auch schon damals der Kleine Bär, wie dies auch im folgenden Vers des Manilius (zur Regierungszeit des Augustus und Tiberius entstanden) zum Ausdruck kommt:
"Und den größeren Bogen beschreibt die
größere Bärin.
Sieben Sterne, im Streit um die Lichtstärke, schmücken
die Bärin;
griechische Kiele durchsegeln mit ihrem Geleitschutz die
Fluten.
Eng ist der Kreis, auf dem sich der schmächtige kleinere
Bär dreht,
kleiner an Größe und Licht; doch nach tyrischem Urteil
besiegt er
weitaus die Große. Den Puniern erscheint er als besserer
Führer,
wenn sie auf See nach dem Land, das nirgendwo sichtbar ist,
steuern."
(Manilius, Seite 33)
Es gab also gute, systematische Gründe, den Katalog des Almagest mit dem Kleinen Bären anfangen zu lassen. Warum aber gerade mit unserem heutigen Polarstern? Dieser hatte damals zufällig die kleinste ekliptikale Länge, bezogen auf das Tierkreiszeichen der Zwillinge, nämlich die Länge 1/6 Grad; und im Almagest sind die Sterne in aufsteigenden Graden, bezogen auf das jeweilige Tierkreiszeichen, angegeben. Ansonsten ist unser heutiger Polarstern im Sternkatalog des Almagest durch keine weitere Besonderheit ausgezeichnet.
zu 2.
Ob die Refraktion im Sternkatalog des Almagest berücksichtigt ist, habe ich nicht nachgeprüft; ich gehe davon aus, dass es so sein könnte. Aber die Refraktion war in der Antike bzw. bei Ptolemäus - von einer einzelnen Anspielung im Almagest abgesehen (Toomer, Seite 421, Fußnote 8) - noch nicht bekannt. Wie klärt sich trotzdem dieser Widerspruch?
Je näher am Horizont Beobachtungen stattfinden, um so mehr wirken sich optische Störungen durch die Atmosphäre aus, da dort der Lichtweg am längsten ist. Und zwar treten folgende Effekte auf (vgl. Krautter, Seite 58f.):
a. Die Extinktion: das Sternenlicht wird geschwächt, d.h. in Horizontnähe sind nur noch hellere Sterne sichtbar.
b. Die Szintillation: das Sternenlicht "flackert", wobei zwischen den nicht mit bloßem Auge bemerkbaren Ortsschwankungen sowie den Helligkeits- und Farbschwankungen zu unterscheiden ist.
c. Die Refraktion: Der Lichtweg ist gebrochen, d.h. wahrer und scheinbarer Sternort unterscheiden sich; direkt am Horizont entsteht dadurch ein Messfehler von ca. 1/2 Grad.
Wer Koordinaten- und zugleich Helligkeitsangaben macht (wie im Sternkatalog des Almagest), wird auch ohne Kenntnis der Refraktion nicht direkt in Horizontnähe beobachten, da hier das Sternenlicht viel zu sehr geschwächt und verzerrt wird ("Horizontdunst"). Sehr südliche Sterne, die nur wenig über den Horizont kommen, wird man also nur dadurch gut messen können, dass man sich weiter nach Süden begibt, also anstatt in Griechenland z.B. in Ägypten, möglichst nilaufwärts, misst, dort z.B. eine "Außenstation" gründet. Indem man also bewusst die Extinktion in Horizontnähe vermeidet, mindert man unbewusst auch die größten Effekte der Refraktion. Bereits 10 Grad über dem Horizont beträgt die Refraktion nur noch ca. 5 Bogenminuten, d.h. 1/12 Grad, was die genauesten Angaben im Sternkatalog des Almagest bereits deutlich unterschreitet, da diese 1/6 Grad betragen.
Anmerkung: Wegen der Refraktion ist auch zwischen einer wahren und scheinbaren Sonne zu unterscheiden. Da am Horizont das Licht "nach oben" gebrochen wird, geht die scheinbare Sonne früher auf und später unter, so dass die Sonne z.B. bei einer Tag-und-Nachtgleiche nicht genau 12 Stunden scheint, sondern ca. 10 Minuten länger. (In die Berechnung der Sonnenscheindauer geht neben der Refraktion (1/2 Grad), auch noch der Sonnenradius (1/4 Grad) ein, bzw. man muss ggf. auch unterscheiden, was unter Sonnenaufgang verstanden wird - der Sonnenrand oder die -mitte.) Indem also bei einer Tag-und-Nachtgleiche eine derartige Zeitanomalie festgestellt worden wäre, hätte die Refraktion entdeckt werden können. Dazu wäre aber zuerst das Konzept und die Realisierung einer abstrakten Zeitmessung, die dem Lauf der Gestirne entgegengesetzt wird, nötig gewesen, also letztlich ein Chronometer, was aber in der Antike noch nicht gegeben war.
zu 3.
Im Sternkatalog des Almagest (siehe Toomer, Seite 386) ist ein Stern erster Größenklasse als "the last star of the river, the bright one" beschrieben (Toomer, Seite 386). Diese Beschreibung trifft, wenn wir das heutige Sternbild Eridanus betrachten, tatsächlich auf den Stern Achernar zu. Der war aber in der Antike selbst auf der Höhe von Alexandria bei weitem noch nicht sichtbar. Infolge der Präzession verlagerte sich zwar seine Sichtbarkeit immer mehr in nördlichere Breiten, aber selbst heute wird er erst ab dem dreißigsten Breitengrad am südlichen Horizont sichtbar, also ab der Breite von Alexandria, noch nicht einmal in Bagdad. Um 1500 konnte man ihn allenfalls auf der Höhe von Medina oder Riad sehen, so dass sich selbst für diese Zeit die Frage stellen würde, wie Achernar damals in den Sternkatalog gelangen konnte, wer also die Beobachtungen südlich dieses Breitengrads gemacht habe.
Die Koordinaten im Almagest weisen ohnehin auf den Stern Acamar (d.h. Theta Eridanus) hin, der viel weiter nördlich steht. Das ist ein Doppelstern mit einer Gesamthelligkeit von 2,9. Wir haben es also mit einer widersprüchlichen Angabe im Almagest bezüglich Koordinaten und Helligkeit zu tun; und man kann nun darüber spekulieren, wie diese Unstimmigkeit zustande kommen konnte (wovon es noch einige ähnliche im Sternkatalog des Almagest gibt):
a. Gegen eine einfache Verschreibung (statt 3. die 1. Größenklasse) spricht, dass dieser Stern auch mit "the bright one" beschrieben ist. Dass er als letzter Stern des Flusses genannt wird, ist sogar zutreffend, denn Acamar war der letzte sichtbare Stern des Flusses Eridanus in der Antike, jedenfalls auf der Breite von Rhodos (wo Hipparchos beobachtete) oder Alexandria (Ptolemäus).
b. Es könnte sein, dass Acamar in der Antike tatsächlich noch um zwei Größenklassen heller war als heute. Eine ähnliche Problematik haben wir bei Sirius, der im Sternkatalog des Almagest als "rötlich" beschrieben ist (Toomer, Seite 387), während er heute ganz blau funkelt. (Im Gegensatz zum Almagest schildert Manilius den Sirius aber als "gleißend" und "mit bläulicher Miene", Seite 45.) Es könnte somit sein, dass selbst Hauptreihensterne im Laufe von Jahrtausenden oder nur Jahrhunderten merklich und dauerhaft Farbe und Helligkeit ändern, was allerdings, gelinde gesprochen, eine Herausforderung für die Sternentwicklungs-Theorien wäre.
c. Es könnte sich tatsächlich um eine Verwechslung zweier Sterne handeln, d.h. die Koordinaten beziehen sich auf Acamar und die Helligkeit auf Achernar. Der antike Kulturkreis reichte immerhin bis zum 15. Breitengrad (Nubien, Arabia felix), und dort war Archenar damals schon sichtbar. Irgendwie könnte sich von dort die Kunde verbreitet haben, dass "ganz am Ende des Flusses Eridanus" noch ein sehr heller Stern leuchte, und seine Helligkeit wurde dann irgendwie auf Acamar projiziert.
Insgesamt sprechen die Punkte 1 bis 3 überhaupt nicht für die Annahme, dass der Sternkatalog des Almagest aus viel späteren Jahrhunderten als dem zweiten stammt; höchstens der Punkt 3 ist etwas widersprüchlich, aber er bliebe es selbst für spätere Jahrhunderte, denn auch dann war Achernar nur in sehr südlichen Breiten der Nordhalbkugel sichtbar.
Die Punkte 2 und 3c verstärken in mir jedoch den Verdacht, dass der Sternkatalog durchaus nicht aus einem "Guss" ist, sondern erst im Laufe mehrerer Jahrhunderte bis zum Almagest seine endgültige Form erhielt, die dann Vorbild für alle weiteren Sternkataloge bis in die Neuzeit blieb. Es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass Hipparchos den Sternkatalog alleine erstellte und dass die Messungen alle am selben Ort erfolgten. "Aus den Worten des Ptolemaios hat man den Eindruck, dass Hipparchos nicht nur in Nikaia und auf Rhodos beobachtet hat, sondern auch in Alexandria." (Waerden, Seite 176) Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass die Messungen für den Sternkatalog des Hipparchos von mehreren Personen an unterschiedlichen Orten, teilweise als Expeditionen in südlichere Breiten, mit unterschiedlichen Messgeräten bzw. Messgenauigkeiten gemacht wurden, mit Hipparchos in der Rolle eines "Projektleiters", und dass der Sternkatalog des Hipparchos auch später durch weitere Sterne ergänzt wurde, bis dann die Zusammenfassung im Almagest erfolgte. Ob man den Sternkatalog als Werk eines Einzelnen oder eines "Teams" auffasst, kann durchaus auch bei weiteren Untersuchungen Folgen haben, z.B. bei statistischen Auswertungen des Sternkatalogs (Eigenbewegungen), da in solche Untersuchungen auch Annahmen über die Messgenauigkeit eingehen. Bei einem Einzelnen dürfte die Messgenauigkeit viel einheitlicher sein als bei einem Gemeinschaftswerk über mehrere Generationen mit unterschiedlich genauen Messgeräten.
Eine Sternwarte aus antiker Zeit in bereits ziemlich südlichen Breiten ist sogar legendär überliefert, nämlich der "Brunnen des Eratosthenes", mit dessen Hilfe erstmals der Erdumfang bestimmt werden konnte, nilaufwärts in Syene (Assuan) direkt am nördlichen Wendekreis gelegen (24. Breitengrad, was der damaligen Schiefe der Ekliptik entspricht). Eratosthenes (276-195 v. Chr.) verwendete allerdings zur Messung "nach dem Bericht des Kleomedes" die auf Aristarch zurückgehende Skaphe, also eine Hohlkugel mit Gnomon und Markierungen. (Herrmann, Seite 10)
Herrmann, Dieter B.: Kosmische Weiten, Kurze Geschichte der Entfernungsmessung im Weltall, Leipzig 1989 (3. Auflage).
Ibn as-Salah: Zur Kritik der Koordinatenüberlieferung im Sternkatalog des Almagest (Hrsg. Paul Kunitzsch), Göttingen 1975.
Kunitzsch, Paul: Der Almagest, Die Syntaxis Mathematica des Claudius Ptolemäus in arabisch-lateinischer Überlieferung, Wiesbaden 1974.
Krautter u.a. (Hrsg.): Meyers Handbuch Weltall, Mannheim 1994 (7. Auflage).
Manilius, Marcus: Astronomica-Astrologie (lat./dt.), Stuttgart 1990 (Reclam).
Toomer, G. J.: Ptolemy's Almagest, Translated and annotated by G. J. Toomer, Princeton 1998 (Princeton University Press).
Waerden, B. L. van der: Die Astronomie der Griechen, Darmstadt 1988.