ILLIG, Nachtrag zum Offenen Brief

Nachtrag zum
offenen Brief
an Herrn Dr. Heribert Illig
von Franz Krojer

Sehr geehrter Herr Dr. Illig!

Sie haben mir noch nicht geantwortet, soviel Zeit ist auch noch nicht vergangen, es ist also kein Vorwurf, aber ich bin ungeduldig und möchte gerne meine neuen Gedanken loswerden, die ich hiermit unter das Motto "Alles dreht sich um Spika" stelle.

Immerhin habe ich schon eine umgehende Antwort erhalten, nämlich als ich den Offenen Brief an Sie auch im Internet-Diskussions-Forum "de.sci.geschichte" ankündigte und ins WWW stellte. In diesem "News-Forum" gab es bereits überraschend viele Diskussionen zum Thema "Illig", wobei sich Günter Lelarge als ein sehr eifriger Verfechter Ihrer Thesen kund tat. (Er ist auch verantwortlich für die Homepage von "Zeitensprünge"; wenn ich das richtig sehe, scheint er zuständig für Ihre Öffentlichkeitsarbeit zu sein oder sich selbst zumindest dafür verantwortlich zu halten.)

Sofort konterte Lelarge, meine Überlegungen zur ekliptikalen Position der Spika seien längst bekannt und bereits vor zwei Jahren in der Zeitschrift "Hör zu" widerlegt worden. (Über die sonstigen Nettigkeiten seiner- und natürlich auch meinerseits kann man sich unter "http://www.deja.com" informieren, wo normalerweise alle Internet-News-Diskussionsbeiträge automatisch archiviert werden.)

Ich will gar nicht leugnen, dass die Messungen von Timarchos und Hipparchos schon von Anderen als Argument verwendet worden sein könnten, allerdings habe ich vor der Veröffentlichung des Offenen Briefs bei verschiedenen Leuten angefragt und die Antwort erhalten, dass meine Überlegungen in dieser Form noch nicht vorgebracht worden seien. Und letztlich geht es ja um die Sache, wobei es weitgehend egal ist, von wem die Überlegungen ursprünglich stammen. Zur Sache.

Lelarge, sich auf Uwe Topper berufend, behauptet, dass zur Zeit des Augustus, also nach herkömmlichem Kalender ziemlich genau vor 2000 Jahren, die ekliptikale Länge der Spika (bezogen auf den Herbstpunkt) "bekanntlich" 0 Grad gewesen sei. Da die heutige Länge der Spika -23,8 Grad beträgt, so folgt daraus, dass demnach nur 1705 Jahre (23,8 * 25800 / 360) vergangen sein dürften, woraus sich eindeutig eine Phantomzeit von ca. 300 Jahren ergibt. (Lelarge hat seine Berechnungen auf 1900 bezogen und auf andere Art als ich gerechnet; aber das tut nichts zur Sache, die Ergebnisse stimmen praktisch überein.)

Lelarge begründet seine Rechnung damit, dass die antiken Quellen zur Zeit des Augustus von einer besonderen Konstellation der Spika mit dem Herbstpunkt berichten; sie habe darin bestanden, dass bei Frühlingsbeginn um Mitternacht die Spika ganz genau im Süden stand und gleichzeitig mit dem Herbstpunkt durch den Meridian ging. Dabei begeht er aber, wie ich ihm nachweisen konnte, einen astronomischen Trugschluss, nämlich, dass er die Schiefe der Ekliptik nicht berücksichtigt. Denn wenn Herbstpunkt und Spika gleichzeitig genau im Süden durch den Meridian gingen, dann hatten sie zwar die gleiche äquatoriale Länge (nämlich 0 oder 180 Grad, je nachdem wie man rechnet), aber daraus folgt noch lange nicht eine gleiche ekliptikale Länge. Eine derartige Gleichsetzung wäre astronomisch nur dann zulässig, wenn entweder die ekliptikale Breite der Spika 0 oder die Neigung der Ekliptik 0 Grad wäre, aber die Werte dafür sind bekanntlich -2 Grad für die ekliptikale Breite der Spika und 23 Grad für die Neigung der Ekliptik zum Äquator. Er rechnet also astronomisch falsch, wie man sich an einer Skizze leicht veranschaulichen kann. (Senkrechte zeichnen, das ist der Meridian; dazu die Waagrechte, das ist der Äquator; zum Äquator linksdrehend mit 23 Grad eine Linie zeichnen, das ist die Ekliptik; der gemeinsame Schnittpunkt aller drei Geraden ist der Herbstpunkt; unterhalb des Äquators und damit auch der Ekliptik auf dem Meridian einen Punkt markieren, das ist die Position der Spika; eine Parallele zur Ekliptik durch die Spika ziehen, der Abstand Ekliptik-Parallele ist die ekliptikale Breite der Spika; das Lot von der Ekliptik durch die Spika errichten, der Abstand Lotpunkt zum Herbstpunkt ist die ekliptikale Breite.)

Daraus folgt, dass die ekliptikale Länge der Spika nicht 0, sondern von der Größenordnung -1 Grad gewesen wäre, woraus dann sogar zu folgern wäre, dass wir zusätzlich zu den 300 Jahren Phantomzeit noch eine weitere von 50 bis 100 Jahren erwägen sollten.

Dies war der Sache erster Teil, allerdings nur das Vorgeplänkel, denn ich habe noch weitaus Interessanteres zu berichten, wenn man nämlich sowohl mich (bzw. die Messungen des Timocharis und des Hipparchos) und die Behauptungen Lelarges, wonach die antiken Quellen zur Zeit des Augustus von einer besonderen Konstellation der Spika mit dem Herbstpunkt sprechen, also uns beide zusammen, soweit als möglich ernst nimmt.

Im Gegensatz zu den Messungen des Timocharis und des Hipparchos, die unter einem systematischen astronomischen Programm standen, nämlich eine möglichst genaue Theorie der "Wandelsterne" zu gewinnen, und wovon auch wirkliche, unmittelbar auf die Ekliptik bezogene Messwerte überliefert sind, scheinen die Überlieferungen zur Zeit des Augustus nur von einer Besonderheit oder besonderen Konstellation der Spika zu sprechen, soweit ich das sehe, ohne dass behauptet werden könnte, es seien dazu Messungen ihrer ekliptikalen Länge erfolgt. Man könnte das natürlich in der Weise abtun, dass die Spika während vieler Jahrhunderte sowieso schon dauernd das besondere Aufsehen der antiken Astronomen erregte, da sie damals immer schon in der Nähe des Herbstpunkts stand und da bereits Timocharis und Hipparchos sie zu einem bevorzugten Objekt gewählt hatten. Mit dieser Argumentation habe ich mich anfangs auch zufrieden gegeben.

Aber sehen wir genauer hin (und machen uns wieder eine Skizze): 300 v. Chr. hat Timocharis die ekliptikale Länge der Spika zu 8 Grad gemessen, 150 v. Chr. hat Hipparchos dann 6 Grad erhalten und wiederum 150 Jahre später, also im astronomischen Jahr 0, also zur Zeit des Augustus, müssten es demnach 4 Grad gewesen sein.

Aus meiner Skizze war zu vermuten, dass die Spika zur Zeit Augustus direkt am Himmelsäquator stand, also die äquatoriale Breite 0 hatte, und somit auf gleicher Höhe wie der Herbstpunkt stand (der ja als Schnittpunkt von Äquator und Ekliptik definiert ist), ca. 5 Grad westlich von ihm! Mit einem "Planetariums-Programm" konnte ich diese Aussage bestätigen. (Man kann übrigens dabei auch testen, wie so ein Programm reagiert, wenn man das Jahr 0 eingibt, denn dieses ist nur astronomisch definiert und entspricht einem "-1 vor Christus".)

Ich komme also im Gegensatz zu Topper/Lelarge zur Aussage, dass die Spika zur Zeit des Augustus nicht die gleiche äquatoriale Länge wie der Herbstpunkt hatte, sondern stattdessen die gleiche äquatoriale Breite; sie stand deshalb nicht südlich, sondern westlich vom Herbstpunkt, direkt am Himmelsäquator. Und dieses Ereignis dürfte auf die damaligen gebildet-abergläubischen Menschen sogar noch faszinierender gewirkt haben, als wenn die Spika "nur" auf gleicher Länge gestanden hätte. Denn abgesehen davon, dass die Astronomen damit vielleicht eine sehr gute Messgrundlage hatten, bedeutete diese Konstellation auch, dass die Spika beim Meridiandurchgang die gleiche Höhe wie die Sonne mittags bei den Tagundnachtgleichen hatte, und es bedeutete darüber hinaus, dass die Spika immer exakt im Osten auf- und im Westen unterging. Zum Herbstbeginn, als Augustus seinen Geburtstag feiern ließ, wäre sie bereits ca. 20 Minuten vor der Sonne aufgegangen (ob dies bereits z.B. von hohen Bergen und bei klarer Sicht beobachtbar war, weiß ich nicht); sie hätte schon bald die Rolle eines Morgensterns und einer "Lichtbringerin" (Vergil) übernommen, die den Sonnenaufgang unmittelbar ankündigte (man beachte, dass bei Topper/Lelarge die Spika zum Herbstbeginn wegen der südlichen Breite der Spika und wegen der schiefen Lage des äquatorialen Längengrads zum Horizont erst einige Minuten später als die Sonne aufgeht, "Lichtbringerin" also gar nicht zutreffend gewesen wäre, wenn man die Überlieferung ganz wörtlich nimmt); zum Frühlingsbeginn wäre sie hingegen in Opposition zur Sonne gestanden, die ganze Nacht über sichtbar gewesen und hätte sich in unmittelbarer Nähe zum Vollmond befunden. Möglicherweise benutzte man damals auch die Spika bei nächtlichen Orientierungen (während ihres Auf- oder Untergangs), in ähnlicher Funktion wie wir heute den Polarstern verwenden, denn dieser war damals infolge der Präzession noch weiter vom Himmelsnordpol entfernt. (Allerdings mit dem Nachteil, dass die Spika nicht das ganze Jahr über nachts wie der Polarstern sichtbar war, und dieser heute ziemlich ortsfest verharrt.)

Ich komme also zu dem Schluss, dass die Spika neben den "Wandelsternen" das wahrscheinlich wichtigste und aufsehenerregenste Objekt am Sternenhimmel zur Zeit des Augustus war. Und zwar in voller Übereinstimmung mit den Messwerten des Timocharis und Hipparchos, woraus ich ja schon gefolgert hatte, dass Ihre These von einer "Phantomzeit" aus astronomischer Sicht sehr wahrscheinlich falsch ist. Um wenigstens ein Patt mit meinen Argumenten zu erreichen, müssten schon Quellen vorgelegt werden, die wirklich belegen, dass z.B. die ekliptikale oder äquatoriale Länge der Spika zur Zeit des Augustus zu 0 Grad bestimmt worden wäre; und ich sage "Patt", denn dann müsste man immer noch abwägen, ob mehr auf die Überlieferungen von Timocharis und Hipparchos oder auf solche aus augustinischer Zeit Verlass wäre (oder sogar auf gar keine).

Ich leugne nicht, dass natürlich auch meine Überlegungen widerlegbar sind. Aber man müsste dann nachweisen, dass wirklich eine sehr grosse Verschwörung vorliegt, die auch heute noch anhält, da die Astronomen, wie ich am Beispiel Stephensons gezeigt habe, dann ständig ihre Daten fälschen müssten. Was ich doch mache, ist dieses: ich nehme die chronologischen Daten als eine "Black-Box", und suche für solche chronologischen Daten astronomische Messwerte, mit denen ich astronomische Zeitspannen berechnen kann, deren Berechnung nicht auf weitere chronologische Daten angewiesen ist. Diese Messwerte (oder auch Theorien) dürfen natürlich nicht selbst Bestandteil chronologischer Bestimmungen gewesen sein, wie dies z.B. bei historischen Sonnen- und Mondfinsternissen der Fall ist (aber selbst solche Ereignisse haben eine "Signatur", der man auch heute noch nachgehen kann, was aber zu schwierig für mich ist); Aussagen wie "8 Grad ekliptikale Länge" eignen sich aber von vorneherein nicht für chronologische Bestimmungen sondern nur für "Plausibilitäts-Checks", da sie zu diesem Zweck viel zu ungenau sind und Unsicherheiten von einigen Jahrzehnten enthalten. Ich stelle sodann fest, dass Zeitspanne und Chronologie zusammenpassen und schließe daraus, dass die "Black-Box" weitgehend richtig arbeitet, selbst in Fällen wie der eher prosaischen Überlieferung aus der Augustuszeit, wo ich sogar eine einleuchtendere Erklärung zu geben weiß als Topper/Lelarge.

Es könnte natürlich sein, dass es eine Feinabstimmung gibt, die die astronomischen und chronologischen Daten seit Jahrhunderten verfälscht. Es müsste aber dann z.B. selbst die Planeten-Theorie des indischen Astronomen Aryabhata irgendwann so gefälscht worden sein, dass heute der Eindruck entsteht, sie sei vor 1500 Jahren entwickelt worden, damit dies wiederum mit der Chronologie zusammenpasse. Fälschung müsste auf Fälschung folgen, damit auf keinen Fall das feinabgestimmte System der Fälschungen zusammenbräche, und auch heute müsste ein Stephenson nichts als fälschen usw. Ihr Rationalismus, der Ausgangspunkt Ihrer ursprünglichen Überlegungen war (ich bezweifle das nicht), würde dadurch in einen tiefen Irrationalismus umkippen, der in der gesamten geschichtlichen und astronomischen Überlieferung und der darauf aufbauenden Forschung nur noch das Werk ständig fortgesetzter Fälschungen sieht. Vielleicht hat diese Wende aber bereits eingesetzt, wenn ich mir einige Leute in Ihrem Schlepptau, wie z.B. Topper oder Lelarge, ansehe. Ich selbst will daran einfach noch nicht glauben.

Um es generalisierend auszudrücken: aus der meines Erachtens durchaus richtigen Feststellung, dass vieles an Karl dem Großen zu bezweifeln ist und dass auch einiges an unserer Chronologie vielleicht nicht stimmt, die, soweit ich das sehe, seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr groß angefasst wurde (wozu es sich z.B. lohnte, Stephenson zu kontaktieren, um mit seinen Daten und Berechnungen die "Kanons der Finsternisse" aus dem 19. Jahrhundert kritisch zu sichten), ist Ihre These von einer 300-jährigen Phantomzeit in eine Richtung ausgeschlagen, in der Einer (bzw. eine Zeitschrift) nur noch dabei ist, allen Anderen ständige Fälschungen nachzuweisen. Und dies nicht, weil Sie von besonderer Böswilligkeit wären, sondern weil, wenn Ihre These von der Phantomzeit stimmte, alle anderen Forscher tatsächlich und aus objektiven Gründen ständig mehr oder weniger unbewusst fälschen müssten, um das bestehende Lügengeflecht der "Phantomzeit" aufrecht erhalten zu können. (Selbst eine Unterschrift "1999" wäre schon eine täglich millionenfach stattfindende kleine Lüge.)

Noch eine Nachbemerkung zur Gregorianischen Kalenderreform. Sie versuchen, aus dem Verlauf der Reformen zwischen Cäsar und Gregor einen Beweis für Ihre "Phantomzeit" zu begründen, der Ihnen sehr wichtig ist. Ich halte ein solches Vorgehen mittlerweile für prinzipiell unzulässig. Sie versuchen nämlich, dem historischen Geschehen eine mathematisch-naturwissenschaftliche Logik zu unterlegen, und berücksichtigen dabei nicht die in der Geschichte jederzeit in Betracht zu ziehende menschliche Willkür. Es ist durchaus möglich, dass wir unterschiedliche Daten, wann die Römer Frühling feierten, "historisch belegen" können, dürfen aber deshalb noch lange nicht den Fehlschluss ziehen, eines der darauf gründenden Szenarien als das einzig "Wahre" darzustellen, genauso wenig wie es einen Sinn hätte, heute den "unbelehrbaren" orthodoxen Christen ihren "falschen" Julianischen Kalender vorzuwerfen. Wird z.B. angenommen, dass zur Zeit des Nicänischen Konzils natürlicher und traditioneller Frühlingsbeginn auf den 21. März gleichgeschaltet wurden, dann ist es durchaus kein logischer Widerspruch, wenn wir feststellen, dass im römischen Imperium seit Augustus' Zeiten die Einen am 25. März Frühlingsbeginn feierten, die Anderen immer schon am 21. März, wieder Andere am 1. März und wieder Andere den Frühlingsbeginn dann feierten, wenn sie ihn direkt zu beobachten glaubten. Wir können nur sagen, dass manche Kulte wohl mehr darauf achteten, dass astronomischer und kalendarischer Frühlingsbeginn zusammen fallen und andere eben weniger. Und selbst wenn z.B. durch zuverlässige historische Quellen belegt wäre, dass sowohl zur Zeit Konstantins als auch zur Zeit des Augustus der Frühlingsbeginn am 21. März gefeiert wurde und dass beide dies in "völliger Übereinstimmung" mit dem astronomischen Frühlingsbeginn und dem Julianischen Kalender taten, dann würde dies zunächst sehr merkwürdig erscheinen, aber eine Erklärung wäre dann eben, dass zwischen diesen beiden "gut belegten" historischen Ereignissen 2 bis 3 Schalttage durchgeführt wurden, die historisch leider "nicht belegt" sind. Wir können maximal zu jedem historischen Beleg "Frühlingsbeginn" wahrscheinliche Szenarien entwickeln, die nicht im Widerspruch z.B. zu astronomischen Gesetzen, anderen historischen Belegen und zum gesunden Menschenverstand stehen dürfen, mehr aber nicht (mit dem gewiss sehr vagen "gesunden Menschenverstand" will ich nur Szenarien ausschließen, in denen jemand in einem Jahr 50 Tage wegnimmt, die er im nächsten Jahr wieder zufügt usw., also die reine Willkür). Stattdessen sind in der Astronomie keine "Schaltgrade" möglich; steht hier einmal eine Reihe "8 Grad, 6 Grad usw." fest, dann kann diese Bewegung nur noch stetig gedacht werden (außer es wäre ein Wunder oder eine Menschheits-vernichtende Katastrophe erfolgt); man würde also sofort auf eine fehlerhafte Messung oder Überlieferung schließen, wenn zu einem etwas späteren Zeitpunkt jemand eine ekliptikale Länge der Spika mit 10 Grad angeben würde. Anders beim Kalenderwesen, hier müssen wir undokumentierte Schalttage und Ähnliches jederzeit als möglich in die Erwägungen miteinbeziehen. Wer hier mittels einer nur den exakten Naturwissenschaften und der Mathematik angemessenen Logik versucht, ein Kalenderszenario als das einzig mögliche durchzusetzen, setzt seinen mathematischen Verstand unvernünftig ein und betreibt letztlich Zahlenmystik.

Wir sehen dies durchaus auch am Verlauf der Julianischen Reform. Die Regeln für Schalttage wurden bekanntlich zunächst von der römischen Exekutive falsch verstanden, weshalb Augustus noch einmal nachreformierte. Aber ein Schlussstrich war damit auch noch nicht gezogen (siehe Seleschnikow, Seite 57 f.). Denn als Dank für seine Kalenderreform, d.h. nachdem diese bereits abgeschlossen war, wurde dem Monat August ein weiterer Tag hinzugefügt, der dem Februar weggenommen wurde, was aber bedeutete, dass dadurch eine Verschiebung des natürlichen und kalendarischen Frühlingsbeginns um einen Tag in Kauf genommen oder beabsichtigt wurde. Und auch später wurde noch an den Längen der Monate "optimiert", so dass man mit Seleschnikow nur sagen kann, dass der Julianische Kalender "allmählich präzisiert" wurde. Als eine der letzten Präzisierungen des Julianischen Kalenders kann man die Gregorianische Reform von 1582 ansehen. Wenn damals um 10 Tage korrigiert wurde (was bisher nicht angezweifelt wurde und wahrscheinlich historisch gut belegt ist), dann kann man sich zwar fragen, ob diese Reform sich wirklich zu Recht auf das Konzil von Nicäa berief und ob sich dafür auch ausreichende Belege finden lassen; aber darüber hinaus gehende Schlüsse, die diese 10 Tage zum Beweis für eine "Phantomzeit" machen wollen, sind wegen der immer möglichen menschlichen Willkür in der Geschichte nicht statthaft, außer es gäbe wirklich solche historischen Belege, die derartige Überlegungen direkt nahelegen, z.B. ein "bisher unbekanntes" Dokument Gregors, in dem er die 10 Tage als "getrickst" bezeichnete.

Im "Offenen Brief" an Sie ist mir noch ein Fehler aufgefallen: Wer meine Argumentation zu den Rotationsperioden Stephensons genau gelesen hat, wird vielleicht bemerkt haben, dass es statt "geringerer Regressionskoeffizient" "höherer" heißen muss.

Noch eine letzte Nachbemerkung: auch mein "Offener Brief" hat schon erste Reaktionen hervorgerufen, die mir überwiegend in der Sache zustimmen und teilweise sogar einen etwas härteren Ton Ihnen gegenüber für angemessen halten. Anstößig und im "Tenor" unangemessen wurde andererseits jedoch teilweise meine Nennung von "Auschwitz-Lüge?" empfunden. Aber nicht ich habe diese Frage aufgeworfen, sondern sie wurde mir durch Sie als bedenkenswert mitgeteilt, indem Sie auf derartige Anspielungen bereits einmal wie folgt reagierten: "Leider ist sie [die moralische Entrüstung] fast an der Tagesordnung, seitdem Joh. Fried Assoziationsmöglichkeiten zwischen mir respektive meiner Theorie und alten wie neuen Nazis schuf. Er siedelte seine Bezeichnungen 'Karlslüge' und 'Karlsleugner' zu nahe bei 'Auschwitzlüge' und 'Auschwitzleugner' und mein Denken zu nahe an einer Deutschland drohenden Katastrophe an, als dass selbst liberale Blätter der Versuchung widerstehen könnten, daraus mich diffamierende Schlüsse zu ziehen. Ich erkenne darin Versuche, das Abwägen von Argumenten abzuwürgen oder von vornherein zu stoppen." (Ethik und Sozialwissenschaften 8(1997)4) Das ist der Kontext, die "Tagesordnung", vor dem sich meine Überlegungen abspielten, denn ich wollte nicht verschweigen, dass auch ich recht direkt in die "Auschwitzfalle" getappt war. Und zwar derart: Der erste Reflex, als ich Ihre These vom "erfundenen Mittelalter" hörte, war: Sehr schön, dass nunmehr zwischen Antike und Neuzeit der finsterste Teil des "finsteren" Mittelalters etwas kürzer geworden ist. Doch der darauf folgende Reflex war: Was passiert eigentlich mit der deutschen Geschichte, wenn Illigs Vorbild Nachahmer fände bzw. sein Vorgehen verallgemeinert würde und zukünftig jeder die Kapitel aus der deutschen Geschichte streicht, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht so gut gefallen? Stellt sich bei dieser Frage die Assoziation, die man nicht beim Namen nennen soll, nicht fast automatisch ein? Zumindest folgte daraus für mich, Ihre These mit den mir zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen, d.h. hauptsächlich astronomischen Mitteln möglichst genau zu prüfen, wie ich schon einmal sagte, nicht als besonderen Beitrag zum Thema "Auschwitz-Lüge", sondern um zu sehen, ob Ihre These von der "Phantomzeit" wissenschaftlich so weit fundiert ist, dass sie die Assoziation zu "Auschwitz-Lüge?" erst gar nicht zu fürchten braucht.

Beim Schreiben des Offenen Briefs schwankte ich sehr, ob ich das Wort "Auschwitz" dennoch fallen lassen soll, da es heute bei vielen unpassenden Gelegenheiten, z.B. zur moralischen Rechtfertigung des Kriegs gegen Jugoslawien, ausgiebig verwendet wird. Ich war mir jedoch auch sicher, dass alleine die Verwendung der Wörter "Phantomzeit" und "deutsche Geschichte" in einem Satz das Wort "Auschwitz" im Assoziationsraum sowieso erzeugt, auch wenn man es nicht ausspricht. Ich erinnerte mich dann an eine sokratische Streitrunde, wo es für alle Beteiligten nahelag, eine gewisse anrüchige Sache zu denken, Sokrates, als er diese zur Sprache brachte, jedoch die empörte Rüge zu hören bekam: "Aber Sokrates, darüber spricht man doch nicht!"

München, im Oktober 1999,
Franz Krojer



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