Als Heribert Illig vor einigen Jahren mit seiner These "Karl den Großen gab es nicht" erstmals an die breite Öffentlichkeit trat, waren ihm die Konsequenzen, die aus dieser These folgen, wahrscheinlich noch nicht ganz klar. Ursprünglicher Ausgangspunkt seiner Überlegungen war, dass es zwar viele schriftliche Überlieferungen zu Karl dem Großen gibt, aber, so Illig, keine archäologischen Funde. Da Papier geduldiger als Stein ist, kam Illig zu dem Schluss, dass das 7. bis 9. Jahrhundert gar nicht wirklich existiert hat, sondern eine "Phantomzeit" sei, die vom Mittelalter bis heute mit immer neuen "Phantomkaisern" und Sagen, denen aber kein wirkliches geschichtliches Geschehen entspricht, ausgefüllt und ausgeschmückt wird. Das westeuropäische frühe Mittelalter, aber auch die entsprechenden Zeitabschnitte der Ausbreitung des Islams rund um das Mittelmeer, von Byzanz und des europäischen Ostens gab es also nicht, und es muss somit gleich für mehrere Kulturen die Geschichte umgeschrieben werden. Keine kleine Aufgabe, haben doch im Laufe vieler Jahrhunderte viele Gelehrte an der Geschichte dieser Kulturen mehr oder weniger wissenschaftlich gearbeitet, die nunmehr innerhalb weniger Jahre von wenigen Leuten um Illig mehr oder weniger wissenschaftlich umgeschrieben und umgedeutet werden will.
Um seine These vom "erfundenen Mittelalter" auch astronomisch-chronologisch abzusichern, bezweifelt Illig das übliche Szenario der gregorianischen Kalenderreform von 1582, wo der Julianische Kalender um 10 Tage korrigiert wurde, sich dabei auf das Konzil von Nicäa beziehend, das den Frühlingsbeginn auf den 21. März festlegte. In knapp 130 Jahren geht der Julianische Kalender nämlich um einen Tag "falsch", wodurch kalendarischer und astronomischer Frühlingsbeginn im Laufe von Jahrhunderten immer mehr voneinander abweichen; vom Konzil von Nicäa bis zur Gregorianischen Kalenderreform waren dies 10 Tage, wie man leicht nachrechnen kann. Stattdessen behauptet Illig, dass bereits zur Zeit der julianisch-augusteischen Kalenderreform, also ca. vor 2000 Jahren, der Frühlingsbeginn am 21. März war, weswegen 1582 eigentlich ca. 13 Tage korrigiert hätten werden müssen. Es fehlen also nach Illig 3 Tage, die nur dann nicht fehlten, wenn eine Phantomzeit von ca. 300 Jahren angenommen werde.
Der "Beweis" Illigs dreht sich dabei um die Sonnenuhr des Augustus. "Er ließ vermutlich am 30.1.9 v. Chr. auf dem Marsfeld nicht nur den Friedensaltar, sondern auch eine riesige Sonnenuhr einweihen, bei der ein kugelgekrönter Obelisk seinen Schatten auf die zugehörigen Messlinien am Boden geworfen hat." (Illig, Seite 45) Diese Sonnenuhr sei für Augustus, der am 23. September seinen Geburtstag feierte, eingerichtet worden und habe an diesem Tag die Herbst-Tagundnachtgleiche angezeigt: "Nur an den beiden Tagen der Äquinoktien läuft der Schatten auf schnurgerader Bahn genau auf den Friedensaltar zu, vielleicht sogar durchs Portal hinein. Unbestreitbarerweise ist diese Anordnung für die Äquinoktie ersonnen; ebenso unbestreitbar ist sie für den am 23.9. geborenen Augustus ersonnen worden. So lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass kurz vor der Zeitenwende die Äquinoktie auf den 23.9. gefallen ist. Nur eine Haaresbreite trennt uns von der absoluten Sicherheit." (Illig, Seite 51) "Wenn das korrekt wäre, dann wäre der Sachverhalt eindeutig, da dem 23. September ein 21. März als Frühlingspunkt entspricht: Dann hätten wir am 23.9.63 v. Chr. dieselben Jahresdaten wie 1582; wir dürften getrost folgern, dass am 23.9.9 v. Chr. zur Einweihung von Augustus' Sonnenuhr dieselben Jahreseckdaten galten wie auch am 1.1.45 v. Chr. bei Einsatz von Cäsars Reform. Dann hätte der Papst den Zustand bei Einführung des iulianischen Kalenders wiederhergestellt. Die Konsequenz ist klar: Dann sind deutlich weniger als 1627 Jahre zwischen Caesar und Gregor vergangen; dann enthält die Zeitachse fiktive Jahrhunderte." (Illig, Seite 51) "Wir haben also den Beweis geführt, dass irgendwann zwischen Caesar und Gregors Kalenderreform 1582 die scheinbar so sauber zusammengefügte Regentenliste einen massiven Fehler enthält, nämlich fiktive, überzählige Zeit." (Illig, Seite 64)
Nun handelt es sich bei der Rekonstruktion der Sonnenuhr des Augustus durch Edmund Buchner (worauf sich Illig bezieht) selbst um mehr oder weniger gewagte Spekulationen (dies gar nicht abwertend gemeint), die teilweise "nicht ausreichend begründet" erscheinen. (Schaldach, Seite 93) Doch darüber soll hier nicht diskutiert werden, lassen wir es also dabei, Illig zusammenfassend: im Jahr 9 v. Chr. fiel die Herbst-Tagundnachtgleiche auf den 23. September. Doch der Schluss Illigs verkehrt sich dann ins Gegenteil, weil er bei seinem "Beweis" nicht berücksichtigt, dass der Julianische Kalender zu dieser Zeit noch stark im Umbruch war.
Zunächst einmal ist bereits der Schluss, wonach aus dem 23. September (Herbst-Tagundnachtgleiche) ein 21. März (Frühlings-Tagundnachtgleiche) folge, nur dann richtig, wenn der Kalender unsere heutigen Monatslängen hat, was aber im Jahre 9 v. Chr. noch nicht der Fall war, denn damals hatte der August (damals noch "Sextilis" genannt) noch 30 Tage (Seleschnikow, Seite 56), woraus - da wir dadurch einen Tag weiter vom 23. September bis zum Frühlingsbeginn zurückgehen müssen - ein 20. März folgt. Bewiesen - oder?
Weiterhin ist bekannt, dass die römische Verwaltung nach der Reform Cäsars die Schaltungsvorschriften falsch anwandte: anstatt alle 4 Jahre einen zusätzlichen Schalttag einzufügen, geschah dies bereits fälschlich alle 3 Jahre. "Den Fehler entdeckte man erst im Jahr 8 v.u.Z., zur Zeit des Nachfolgers Cäsars, des Kaisers Augustus, der eine neue Reform verfügte und so den sich summierenden Fehler beseitigte. Auf seinen Befehl wurden, beginnend vom Jahr 8 v.u.Z. bis zum Jahr 8 u.Z. die eingefügten zusätzlichen Tage in den Schaltjahren ausgelassen." (Seleschnikow, Seite 57)
Wurden z.B. die Schaltjahre 5 und 1 v. Chr. sowie 4 und 8 n. Chr. ausgelassen (wie im einzelnen vorgegangen wurde, weiss man nicht), dann heisst dies, dass dadurch die Herbst-Tagundnachtgleiche um 4 Tage nach hinten rückte, also auf den 27. September. Woraus dann ein 24. März für die Frühlings-Tagundnachtgleiche folgt sowie ein 26. Dezember für die Wintersonnenwende. Und da während oder nach den Reformen auch noch der Monat "Sextilis" in den Monat Augustus umbenannt wurde und dieser nunmehr 31 Tage erhielt und der Februar dafür um einen weiteren Tag gekürzt wurde, so folgt daraus, dass nach den Reformen des Augustus die Herbst-Tagundnachtgleiche auf den 27. September, die Frühlings-Tagundnachtgleiche auf den 25. März und die Wintersonnenwende auf den 26. Dezember gefallen wäre. (Zu dieser Zeit wurden noch weitere Korrekturen an den Monatslängen vorgenommen, die aber, soweit ich das sehe, keinen Einfluss auf die genannten Jahreseckdaten hatten.)
Zusammenfassend:
Vor der Reform des Augustus bzw. 9 v. Chr.:
20.3. 23.9. 22.12.
August wird 1 Tag länger, Februar 1 Tag kürzer:
21.3. 23.9. 22.12.
4 Schalttage fallen aus (von 8 v. bis 8 n. Chr.):
25.3. 27.9. 26.12.
Wenn angenommen wird, dass nach den Reformen des Augustus der Julianische Kalender feststand bzw. im Sinne der Reform Cäsars wieder hergestellt wurde, dann entspräche dies weitgehend dem herkömmlichen Szenario, wonach das Konzil von Nicäa im Jahre 325 feststellte, dass der natürliche Frühlingsbeginn damals auf den 21. März fiel. Denn der Julianische Kalender wäre in den zwischenzeitlich gut 300 Jahren um 3 Tage falsch gegangen und der Frühlingsbeginn hätte sich um 3 Tage Richtung 21. März verschoben. Für die "fiktive Zeit" Illigs bleibt demnach kein Raum übrig und Gregor hatte nur 10 Tage zu korrigieren, als er sich auf das Konzil von Nicäa berief.
Diese Jahreseckdaten passen auch gut zu antiken Überlieferungen, wonach der Frühlingsbeginn traditionellerweise am 24. oder 25. März und das Fest des "unbesiegbaren Sonnengottes" nach der Zeitenwende am 25. Dezember gefeiert wurden. (Schneider, Seite 557 bis 560; Zinner, Seite 25) Da das christliche Osterfest vom Frühlings-Vollmond abhängt, bestand ein Bedarf nach einer möglichst exakten Bestimmung des Frühlingsbeginns, weshalb das Konzil von Nicäa (und später wieder Papst Gregor) auf den 21. März als Frühlingsbeginn bestanden. Bei der Wintersonnenwende besteht keine solch direkte Abhängigkeit vom genauen Datum, weshalb das Christentum hier den traditionellen 25. Dezember übernehmen konnte. Wir feiern heute den 22. Dezember als natürlichen Winterbeginn und den 25. Dezember als gleichsam christlichen; dieses Verhältnis wäre demnach darauf zuruckzuführen, dass beim Konzil von Nicäa zwar der Frühlingsbeginn an die natürlichen Gegebenheiten angepasst wurde (um damit das vom Mondlauf abhängige Osterfest stimmiger zu berechnen), nicht jedoch das Fest des "unbesiegbaren Sonnengottes".
Der "Beweis" Illigs kann also genau anders herum geführt werden. Da aber sowohl die Quellenlage zu Zeiten Cäsars und Augustus' und auch später zur Zeit des Nicänischen Konzils schlecht ist, sind wir sowieso genötigt, den plausibelsten Ablauf für die Kalenderreformen von Cäsar bis heute aus der gregorianischen Reform und ihrer Überlieferung zu erschließen. Dabei zeigt sich dann, dass die antiken Überlieferungen sehr gut in dieses herkömmliche Szenario passen und selbst Illigs "Gegenbeweis", genauer betrachtet, umschlägt und somit das herkömmliche Szenario bestätigt.
Witzigerweise geht Illig - ebenfalls Seleschnikow zitierend - der Frage nach, was wäre, wenn der Beschluss des Augustus unbeachtet geblieben wäre, was aber Illig bezweifelt. Denn: "Dafür müsste allerdings erst nachgewiesen werden, dass der Erlass des Augustus niemals ausgeführt worden wäre." (Illig, Seite 44) Wenn aber der Entschluss des Augustus ausgeführt wurde, dann, und dies schreibt wiederum Illig: "Dann entfielen die Schalttage der Jahre 5 und 1 v. Chr. sowie des Jahres 4 n. Chr., worauf im Jahre 8 n. Chr. erstmals Caesars Schaltregel korrekt zum Einsatz kam." (Illig, Seite 43) Illig anerkennt also, dass 3 Schalttage entfallen sind, was aber bedeutet - egal ob es nun 3 oder 4 (wie ich es verstehe) entfallene Schalttage sind - dass in den Jahren 8 v. Chr. bis 8 n. Chr nicht geschaltet wurde. Dies aber bedeutet, dass die Jahre im Durchschnitt nur 365 Tage lang waren, d.h. gegenüber dem natürlichen tropischen Jahr ca. einen Viertel-Tag zu kurz waren. Zu kurze Jahre führen aber zu einer Verschiebung des Kalenders zum Monatsende, wie man dies umgekehrt auch sieht, denn der Julianische Kalender ist wiederum ein wenig zu lang gegenüber dem tropischen Jahr (um ca. 11 Minuten, siehe Scheleschnikow, Seite 61), weswegen der Frühlingsbeginn im Laufe des 4. bis 16. Jahrhunderts vom 21. März zum 11. März, also zum Monatsanfang, wanderte. Als Faustregel gilt somit, dass zu kurze Kalenderjahre (oder zu wenige Schalttage) gegenüber dem tropischen Jahr eine Verschiebung des kalendarischen Frühlingsbeginns zum Monatsende bewirken und zu lange Kalenderjahre (oder zu viele Schalttage) eine Verschiebung Richtung Monatsanfang. Wenn also Illig darauf besteht, dass einerseits vor der augusteischen Reform der Herbstbeginn um den 23. September und deshalb der Frühlingsbeginn um den 21. März lag und wenn er gleichzeitig behauptet, dass die augusteischen Reformen durchgeführt wurden und deswegen 3 Schalttage ausgelassen wurden, dann bedeutet dies eben, dass nach diesen Reformen der Frühlingsbeginn sich zum 24. März vorgeschoben hatte (von weiteren Details wie dass der Monat August einen Tag mehr bekam, einmal abgesehen; es geht hier um die Tendenz und das Prinzip). Es ist schon lustig zu sehen, wie Illig, um echte oder vermeintliche Gegner zu widerlegen, sich immer die Argumente zusammenbastelt, die gerade passend erscheinen, ohne diese jedoch wirklich in allen Konsequenzen durchzudenken. Widerlegt werden sollen auf Seite 44 nämlich diejenigen angeblichen Gegner Illigs, die behaupten, dass die augusteischen Reformen niemals ausgeführt worden seien, d.h. dass weiterhin wie die Jahre zuvor zuviel - also in jedem 3 Jahr - geschaltet wurde, was, wie Illig durchaus noch richtig bemerkt, eine Verschiebung des kalendarischen Frühlingsbeginns vom 21. zum 18. März bewirkt hätte, da "drei Tage zuviel eingefügt worden sind", und dann "hätte 1582 nicht vom 10.3., sondern sogar vom 7.3. auf den 21.3. zurückkorrigiert werden müssen."(Illig, Seite 44) Weitgehend richtig, Herr Illig, aber wenn dann umgekehrt die augusteischen Reformen doch durchgeführt worden sind und Schalttage ausgelassen wurden, dann hat sich dadurch der Frühlingsbeginn eben vom 21. zum 24. März verschoben. Und da, wie Illig wiederum behauptet, "im Jahre 8 n. Chr. erstmals Caesars Schaltregel korrekt zum Einsatz kam" (Seite 43), so folgt daraus, dass sich bis zum Konzil von Nicäa wegen der Ungenauigkeiten des Julianischen Kalenders der Frühlingsbeginn vom 24. zum 21. März verschoben hatte. Wer A sagt, muss auch B sagen, und in diesem Fall bedeutet dies, dass Illig, indem er vermeintliche, nicht beim Namen genannte Gegner zu widerlegen glaubt, unwillkürlich einen Beweis für das herkömmliche Szenario geliefert hat, wonach beim Konzil von Nicäa der Frühlingsbeginn am 21. März war!
Scheint Illig das Schlamassel zu ahnen? Jedenfalls versucht er, seinem "Beweis" eine höhere Weihe zu geben, indem er nun auch die "Präzession" ins Spiel bringt; dabei verrennt er sich aber vollständig, weil er nicht einmal weiß, worüber er schreibt, und weil er sich auf Personen beruft, die den folgenden Illigschen Humbug überhaupt nie behauptet haben.
Zur Erinnerung: die Präzessionsbewegung der Erde wurde von Hipparchos ca. 130 v. Chr. erstmals richtig begriffen. Die Erde beschreibt dabei - neben der täglichen Rotation um ihre eigene Achse und der jährlichen um die Sonne - in ca. 26000 Jahren eine Rotation um den Pol der Ekliptik. Dadurch ändert sich die Ausrichtung der Erdachse bezüglich des Fixsternhimmels, mit den Folgen, dass z.B. der Himmelsnordpol und der Himmelsäquator samt seinen Schnittpunkten mit der Ekliptik (also der Frühlings- und Herbstpunkt) durch andere Sterne bzw. Koordinaten gekennzeichnet sind. Aber die Präzessionsbewegung ändert weder etwas an der Schiefe der Ekliptik (also die Neigung der Erdachse zur Erdbahn, wodurch der jahreszeitliche Ablauf bedingt ist) noch die geografische Breite für einen bestimmten Ort. (Genauer gesagt verändern sich auch diese Werte langsam oder geringfügig, ihre Änderungen sind aber für die hier erörterten Zeiträume und Zusammenhänge vernachlässigbar. Näheres hierzu in dem sehr empfehlenswerten Büchlein "Weil die Erde rotiert" von Siegfried Anders.) Bleiben die Schiefe der Ekliptik und die geografischen Breiten aber unverändert, dann bedeutet dies, dass z.B. auch die Mittagshöhen der Sonne während der Tagundnachtgleichen (Äquinoktien) oder der Sonnenwenden (Solstitien) gleich bleiben, d.h. der Einfallswinkel der Sonne und damit das jahreszeitliche Schema bleibt dadurch unverändert (wiederum von sehr diffizilen Effekten abgesehen, siehe Laskar). Herr Illig ist hier jedoch ganz anderer Ansicht:
"Ein Lichtstrahl fällt im Dämmer eines großen Raumes auf ein metallenes Maßband. Je höher die winzige Lichtluke liegt, desto genauer wird die Tagesanzeige. Heute noch können wir in Santa Maria degli Angeli in Rom, in den Domen von Bologna oder Palermo die Hauptmeridiane dieser Städte sehen. Hier ließ sich alle Tage das zugehörige Datum direkt ablesen. Allerdings laufen derartige Anlagen wegen der Präzession überraschend schnell 'aus dem Ruder'. Dieser Begriff bezeichnet eine Taumelbewegung der Erdachse, bei der binnen 25920 Jahren, dem großen platonischen Jahr, die Verlängerung der Erdachse einen Vollkreis um den Himmelsnordpol beschreibt. Als eine Konsequenz daraus ändert sich der Einfallswinkel des Sonnenlichts und damit die Anzeige von Licht- oder Schattenwerfern. Wenn es uns gelingen würde, die antike Länge eines Schattens und die Höhe seines Werfers festzustellen und mit den heutigen Werten zu vergleichen, dann hätten wir eine Kontrollmöglichkeit für die hier im weiteren dargelegten Probleme. Unter Augustus bevorzugte man die 'Open-Air-Methode'. Er ließ vermutlich am 30.1.9 v. Chr. (Buchner, 10) auf dem Marsfeld nicht nur den Friedensaltar, sondern auch eine riesige Sonnenuhr einweihen, bei der ein kugelgekrönter Obelisk seinen Schatten auf die zugehörigen Messlinien am Boden geworfen hat. Auch hier wirkt sich die Präzession aus: Bei einer Höhe des Obelisken von rund 30 m kommt es bereits nach etwa 60 Jahren zu einem merklich Fehler.(Buchner, 13) So konnte es nicht überraschen, dass die Ausgrabungen ein neugelegtes 'Zifferblatt' erbrachten, das wahrscheinlich bereits in der Regierungszeit von Domitian (81-96) ausgeführt worden ist.(Buchner, 76) Das Werk von Augustus war bereits 'verrückt'." (Illig, Seite 44 f.; die Referenzen in diesem Zitat sind von Illig angegebene Seitenangaben, die sich jedesmal auf "Die Sonnenuhr des Augustus" von Edmund Buchner beziehen.)
Als ich diese Ausführungen Illigs zum erstenmal las, traute ich meinen Sinnen nicht mehr. Gewiss ist es offensichtlich falsch, dass wegen der Präzession die "Verlängerung der Erdachse" einen "Vollkreis um den Himmelsnordpol" beschreibe, denn es muss natürlich "um den Pol der Ekliptik" heißen. Aber ändert sich auch noch durch die Präzession der "Einfallswinkel des Sonnenlichts" und gehen dadurch Sonnenuhren allgemein schon nach kurzer Zeit falsch und speziell die Sonnenuhr des Augustus schon nach 60 Jahren? Indem Illig in diesem Absatz dreimal einen ausgewiesenen Kenner der Sonnenuhr des Augustus, Edmund Buchner, zitiert, ensteht der Eindruck, als ob es sich um allgemein anerkannte Wahrheiten handelt, die Illig hier nur referenziert. Würde sich allerdings infolge der Präzession der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen bereits in einigen Jahrzehnten "merklich" ändern, dann hätten wir schon nach wenigen Jahrhunderten auch mit merklichen (und systematischen) Klimaänderungen zu rechnen. Das kann nicht sein; selbst wenn man über die Präzession keine genaue Vorstellung hätte, käme man dadurch schon ins Zweifeln. Und die Aussage Illigs ist auch astronomisch völliger Blödsinn: der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen ändert sich durch die Präzession nicht, d.h. eine geologisch stabile Sonnenuhr, die z.B. die Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden heute richtig am Boden anzeigt, wird dies auch nach 60 Jahren noch tun. Teile einer Sonnenuhr können allerdings schon nach kurzer Zeit falsch gehen, z.B. wenn der verwendete Kalender nicht genau das tropische Jahr (d.h. den Sonnenlauf in Bezug auf die Äquinoktien) reflektiert. Wenn also z.B. im Jahr 9 v. Chr. eine Datums-Markierung als Herbstbeginn den 23. September bezeichnete, dann wäre diese Marke bereits 20 Jahre später infolge der augusteischen Kalenderreform um 4 Tage falsch gewesen. Ähnlich verhält es sich mit dem Julianischen Kalender: wir würden auf einer Sonnenuhr (oder einem Meridian), der zusätzlich zu den Positionen der Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden auch Datumsmarkierungen hätte, ca. alle 130 Jahre einen Datumsfehler von einem Tag feststellen, wir könnten dann also z.B. an einer solchen Uhr die Differenzen ablesen, die 1582 Anlass gaben, den Julianischen Kalender zu verbessern. Im Gregorianischen Kalender, der viel besser das tropische Jahr reflektiert, würden wir erst nach vielen tausend Jahren eine Ungenauigkeit bei den Datums-Markierungen feststellen (da sich allerdings in solchen Zeiträumen auch die Schiefe der Ekliptik merklich ändert, müsste man sogar dies dann auch berücksichtigen). Eine Sonnenuhr (oder ein Meridian) geht also nicht allgemein wegen der Präzession und der dadurch geänderten Einfallswinkel der Sonne falsch; einzelne Bestandteile eine Sonnenuhr können allerdings ungenau werden, wenn z.B. Datums-Markierungen angebracht sind und der verwendete Kalender nicht genau genug das tropische Jahr widerspiegelt. Auf weitere Möglichkeiten, wieso eine Sonnenuhr "aus dem Ruder" laufen kann, werde ich gleich noch eingehen. Wie aber kommt Illig dazu, einen derartigen astronomischen Unsinn zu behaupten und als Ausgangspunkt "für die hier im weiteren dargelegten Probleme", seinen "Beweis", zu nehmen; hat Buchner wirklich so einen Humbug behauptet? Kurze Antwort: Nichts von den Behauptungen Illigs findet sich bei Buchner; das ganze Gestammle von der angeblich durch die Präzession verursachten Ungenauigkeit von Sonnenuhren entstammt alleine der Willkür Illigs; es hätte nur noch gefehlt, wenn Illig als Referenzen für seinen "Beweis" auch noch irgendwelche Werke von Einstein, Heisenberg und Hawking angegeben hätte, um noch mehr Gelehrsamkeit und Wissenschaftlichkeit vorzutäuschen.
Die Sonnenuhr war nach Buchner einfach deswegen nach ca. 60 Jahren "aus dem Ruder" gelaufen bzw. unbrauchbar geworden, weil das Fundament des Obelisken instabil wurde und der Obelisk dadurch in eine Schieflage geriet: "Über die Tatsache, dass die Uhr schon etwa 30 Jahre - da Plinius bekanntlich 79 n. Chr. beim Vesuvausbruch ums Leben kam, kann die Uhr höchstens bis 49 n. Chr., seit der Einweihung also 57 Jahre richtig gegangen sein - nicht mehr stimmte, und über die Gründe hierfür berichtet Plinius fast ebenso ausführlich wie über die Uhr selbst. Dank den sorgfältigen Beobachtungen des Engländers James Stuart - sein Beitrag ist durch seine genauen Vermessungen des Obelisken und vor allem seine Angaben über dessen im Boden belassenen Sockel für uns der nützlichste in dem ganzen oben zitierten Werk von Bandini - wissen wir, dass die Südwestecke des Sockels um 2 englische Unzen, also etwa 5 cm, abgesunken war. 5 cm bei einem quadratischen Sockel mit Seitenlängen von etwa 3 m bedeuten an der Spitze eines rund 30 m hohen Gnomon eine Abweichung von ungefähr 35 cm. Wie genau muss diese Uhr gearbeitet gewesen sein, dass sie durch einen solchen relativ geringen Fehler (35 cm bei 55,5 m!) schon unbrauchbar wurde." (Buchner, Seite 13)
Dies ist ein Zitat Buchners von Seite 13, also derjenigen Seite, die Illig auch als Referenz angibt. Und hier wird erstmals bei Buchner davon gesprochen, dass die Sonnenuhr wegen einer Schieflage unbrauchbar wurde. Allerdings findet sich auf dieser Seite auch eine Fußnote, in der Buchner die Präzession einmal erwähnt. Diese Fußnote bezieht sich jedoch noch auf einen Abschnitt vorher, wo es um den Bau der Sonnenuhr geht: "Wegen der sog. Präzession stimmten allerdings auch schon um Christi Geburt - heute um 30 Grad, also ein ganzes Zeichen, verschoben - die Lage der Sternbilder am Himmel (Eintritt der Sonne in das neue Zeichen jeweils schon um den 17. des Monats) und die Tierkreiszeichen, die die Bindung an die Jahreszeiten (Äquinoktien und Sonnenwenden) beibehalten haben, nicht mehr überein." (Buchner, Seite 13, Fußnote 21)
Gemeint ist also Folgendes: da bereits damals Sternbilder (wie in der Astronomie gebräuchlich) und Tierkreiszeichen (wie in der Astrologie gebräuchlich) wegen der Präzession auseinanderliefen, wichen beide Systeme beim Bau der Sonnenuhr ("um Christi Geburt") bereits damals ein wenig voneinander ab, ein Effekt, der heute dazu geführt hat, dass Sternbilder und Tierkreiszeichen mittlerweile vollkommen um ein Bild voneinander abweichen. Mehr sagt Buchner nicht, und er erwähnt dies beiläufig, ohne darauf später noch einmal einzugehen. Für einen oberflächig lesenden Illig mag diese Bemerkung aber ausgereicht haben, die Präzession als prinzipielle Ursache für die Ungenauigkeit von Sonnenuhren bzw. "Schattenwerfern" anzunehmen und sofort in seinen "Beweis" einzuflechten. Man muss Buchner wirklich äußerst oberflächlich gelesen haben, um ihm das Präzessions-Argument zu unterschieben, denn Buchner kommt immer wieder und ausdrücklich betonend darauf zurück, dass es die Schieflage der Sonnenuhr war, die diese "unbrauchbar" machte:
"Dass das von einem mathematicus geschaffene Solarium des Augustus äußerst präzise gearbeitet war, wurde schon oben der Tatsache entnommen, dass es nach relativ geringfügiger Verschiebung der Gnomonspitze durch Absinken einer Ecke der Basis unbrauchbar wurde; dies wird sich noch öfter bestätigen." (Buchner, Seite 23)
Ab Seite 47 geht Buchner nochmals auf mögliche Ungenauigkeiten bei dieser Sonnenuhr ein und erwähnt dabei zusätzlich zur nötigen sehr genauen Justierung des Obelisken, dass auch der nicht ganz genau bekannte Wert für die Schiefe der Ekliptik und die auf der Spitze des Obelisken angebrachte Kugel zu Ungenauigkeiten führen; allerdings geht es Buchner bei dieser Passage nicht um eine prinzipielle Ungenauigkeit der Sonnenuhr - von ihrer großen Genauigkeit ist Buchner überzeugt -, sondern darum, dass es zur Herstellung dieser großen Genauigkeit nicht ausreichte, die berechneten Werte direkt auf das Pflaster zu übertragen, sondern dass bei ihrem Bau auch noch eine Justierung durch den tatsächlichen Sonnenlauf nötig war: "Ich glaube nicht, dass das Liniennetz vom Zeichentisch unkontrolliert durch den tatsächlichen Schattenverlauf und unkorrigierbar auf das Pflaster übertragen wurde." (Buchner, Seite 48)
Und nochmals Buchner, nur damit nicht der Eindruck entstehe, ich lege mir Buchner nur zurecht, um Illig zu widerlegen: "Der Obelisk hatte sich, und deswegen ging die Uhr etwa ab dem Jahre 50 n. Chr., also etwa 60 Jahre nach ihrer Anlage, nicht mehr richtig, etwas nach Süden geneigt." (Buchner, Seite 66; in dieser Passage erörtert Buchner nochmals die geringe Schieflage des Obelisken, die zu einer solch großen Ungenauigkeit geführt haben soll, und deutet, so weit ich das verstehe, an, dass die Schieflage vielleicht doch etwas größer als bisher angenommen gewesen sein könnte.) Und schließlich fragt sich Buchner: "Warum ging die Uhr nicht mehr richtig? Rudolf Till, der die Ergebnisse meiner Grabung, an der er besonders interessiert war, leider nicht mehr erleben konnte, verdanke ich den Hinweis, dass fast 30 Jahre vor dem Erscheinen der naturalis historia des Plinius (77 n. Chr.), nämlich im Jahre 51 n. Chr., dem Bericht des Tacitus zufolge (ann. 12,43) in Rom häufige Erdstöße stattgefunden haben, durch die Häuser einstürzten (crebris terrae motibus prorutae domus). Till äußerte die plausible Vermutung, dass eben diese Erdbeben schuld daran waren, dass die Uhr des Augustus schon annähernd 30 Jahre nicht mehr richtig ging. Auch Plinius nat. 36,73 hält Erdbeben fur eine der möglichen Ursachen: sive urbis tremoribus ibi tantum gnomone intorto." (Buchner, Seite 66, Fußnote 1)
Während es bei Buchner also unzweideutig heißt, dass die Sonnenuhr wegen einer Schieflage des Obelisken nach ca. 60 Jahren unbrauchbar wurde, behauptet Illig, sich auf Buchner berufend und ihn mehrmals referenzierend, dass die Ursache die durch die Präzession verursachte Änderung des Sonneneinfallswinkel gewesen sei - ein Hirngespinst, das weder durch die Astronomie noch durch Buchner belegt ist. Bereits bei der Erörterung der julianischen, augusteischen und gregorianischen Kalenderreformen sahen wir, dass Illig sich seine "Beweise" so zurechtlegt, wie sie ihm augenblicklich gerade passend erscheinen, und wir sahen soeben bei seiner Behandlung Buchners, dass er vollkommen willkürlich anderen Autoren Behauptungen in den Mund legt, die weder sachlich richtig sind noch von diesen jemals behauptet wurden. Wir sehen also bei Illig:
"Ungenauigkeiten, die auf geringe Sachkenntnisse schließen lassen - Auslassungen von Illig bekannten und für den Zusammenhang wichtigen Fakten - völlig sinnlose, durch nichts zu rechtfertigende Fragen, deren Antwort Illig bereits in seinen Unterlagen vorfand - frei erfundene Behauptungen, auf denen er seine Thesen überhaupt erst aufbauen kann sowie je nach Erfordernissen übertriebene oder untertriebene Angaben."
Wer hier allerdings so treffend charakterisiert wird, ist nicht Illig, sondern Däniken (man verzeihe mir diesmal, dass ich nicht korrekt zitiert habe, "Illig" also durch "Däniken" zu ersetzen ist; Gadow, Seite 27) Und selbst die folgende Charakterisierung scheint wie maßgeschneidert auch auf Illig zuzutreffen: "Einen besonderen Zorn hat Däniken auf 'fixe Daten' der Geschichtsforschung, die er ändern will (und auch wirklich ändert, indem er - wie wir sehen werden - die Jahrtausende durcheinanderwürfelt)." (Gadow, Seite 70)
Hat Illig zuviel Däniken gelesen? Die Frage erübrigt sich und ihre Bejahung soll hier auch gar nicht unterstellt werden. Denn um mit der Wissenschaft und vor allem der Astronomie auf Kriegsfuß zu stehen, reicht es schon vollkommen aus, einen Immanuel Velikovsky gelesen und verinnerlicht zu haben. Man trifft immer wieder auf diesen Namen, wenn man die von Illig herausgegebene Zeitschrift "Zeitensprünge" liest, und es ist wohl nicht unterstellend, wenn ich die "Zeitensprüngler" als "deutsche Velikovskianer" charakterisiere, denn so bezeichnen sie sich selbst auf der WWW-Seite des "Berliner Geschichtssalons" (http://www.berliner-geschichtssalon.de/ salonhistorie/salonhistorie.htm).
In "10 Jahre Bullletin, 10 Jahre Mantis, Zum doppelten Lustrum" beleuchtet Illig als Herausgeber der Zeitschrift "Zeitensprünge" den bisher zurückgelegten Weg: "Unsere Thematik hat sich im Laufe der zehn Jahre mählich verändert. Unser steter Bezug auf Immanuel Velikovsky bestimmte anfänglich die Vorgabe: Katastrophik in historischer Zeit, chronologische Probleme vor allem in Ägypten, psychologische Konsequenzen und Weiterungen. Unser ursprünglicher Rahmen wurde durch die sechs Bücher von Christian Blöss, Gunnar Heinsohn und mir bei Eichborn abgesteckt: die gekürzte Geschichte seit der späten Altsteinzeit (Die veraltete Vorzeit), die radikale Geschichtskürzung von Mesopotamien (Die Sumerer gab es nicht) und Ägypten (Wann lebten die Pharaonen?), Abschied von der Evolution (Jenseits von Darwin), kosmisches Chaos (Planeten, Götter, Katastrophen) und psychische Konsequenzen (Was ist Antisemitismus?)." (Zeitensprünge 4/98, Seite 521f.) Die Wurzeln liegen also bei Velikovsky, wobei man allerdings zum Beispiel "seit Illigs bahnbrechender Zeitverkürzungsthese fürs Mittelalter" (Angelika Müller, Die Gottesanbeterin (Mantis) wird 10 Jahre alt!, Zeitensprünge 4/98, Seite 528) den Blickwinkel durchaus selbstständig erweitert hat. Velikovsky bleibt aber weiterhin ein großer Fixpunkt; unter anderem lobt der Herausgeber ausdrücklich, "dass ein katastrophistisches Buch, das sogar Velikovsky aufführt, als Dissertation angenommen worden ist. Für Arbeiten vergleichbarer Qualität sind hier im Bulletin ein paar Dutzend Ansätze erschienen, die lediglich das Manko hatten, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ins herrschende Weltbild zu passen." (Illig, ebenda, Seite 523) Und auch in der Besprechung von Hans-Joachim Zillmers Buch "Darwins Irrtum" würdigt Illig wiederum die Berufung auf "etliche Katastrophisten wie Otto Muck, das Ehepaar Tollmann und nicht zuletzt Velikovsky, der rund ein Dutzend mal genannt wird. Der Autor sieht die Erde wie J.v. Butlar als Überrest des einstigen Planeten zwischen Mars und Jupiter, der somit dank einer ersten Katastrophe 'vor nur ein paar tausend' Jahren zu unserer Erde wurde." (Illig, Zeitensprunge 4/98, Seite 589.) Illig stimmt zwar einer nur ein paar tausend Jahre alten Erde nicht zu und erwägt stattdessen: "Eine gleichwohl mögliche Variante wäre eine Erde, die nicht nur z.B. 10.000 Jahre alt wäre, sondern z.B. um den Faktor 10 oder 100 älter." (ebenda, Seite 590). Zillmer "hatte den Mut, Kreationisten, Paläo-Ufologen, Katastrophisten und main-stream-Forscher an einen Tisch zu bringen, um antiquierte Modelle in der Rumpelkammer zu verstauen. Diesem Mut ist Referenz zu erweisen." (ebenda, Seite 590)
Wer im Internet nach dem Stichwort "Velikovsky" sucht, wird schnell finden, dass der Verfasser des 1950 erschienenen Buches "Welten im Zusammenstoß" auch heute noch eine gegen die herkömmliche Schul-Astronomie gerichtete Kultfigur ist. Zwischen den Aussagen - "Tatsachen" - Velikovskys und der wissenschaftlichen Astronomie und Astrophysik ist allerdings wirklich keine Vermittlung denkbar:
"Alle kosmologischen Betrachtungen gingen bisher von der
Annahme aus, dass die Planeten Milliarden Jahre lang in ihren
Bahnen kreisen. Wir behaupten dagegen, dass sie erst seit ein
paar tausend Jahren auf ihren heutigen Bahnen dahinziehen.
Wir behaupten weiterhin, dass ein Planet, nämlich die Venus,
früher ein Komet war und erst zu Menschengedenken unter die
Planeten aufgenommen wurde, wodurch es möglich wird zu
beschreiben, wie wenigstens einer dieser Planeten entstanden
ist. Wir beschreiben, wie wenigstens einer dieser Planeten
entstanden ist. Wir haben vermutet, dass der Komet Venus
seinen Ursprung in dem Planeten Jupiter hatte. Dann fanden
wir, dass kleinere Kometen aus der Begegnung zwischen Venus
und Mars hervorgingen, woraus sich eine Erklärung für die
Herkunftsweise der Kometen des Sonnensystems ergab. Dass
diese Kometen nur einige tausend Jahre alt sind, erklärt
auch, warum sie trotz des Zergehens ihrer Schweife im
Weltenraum sich noch nicht völlig aufgelöst haben. Aus der
Tatsache, dass die Venus einstmals ein Komet war, erkannten
wir, dass Kometen keineswegs massenlose Gebilde - 'rien
visible' - sind, wie man wohl annahm, da die Sterne
gewöhnlich durch ihre Schweife hindurchscheinen und die Köpfe
von ein oder zwei Kometen beim Vorbeigehen vor der Sonne
unsichtbar waren. Wir behaupten, dass sich die Erdbahn und
damit die Länge des Jahres mehr als einmal änderte, dass die
geographische Lage der Erdachse und ihre astronomische
Richtung sich wiederholt verschob, und dass noch in jüngerer
Zeit der Polarstern innerhalb des Sternbildes des Großen
Bären lag. Die Länge des Tages änderte sich; die
Polarregionen verschoben sich; das Polareis geriet unter
gemäßigte Breiten, und andere Gebiete rückten in den
Polarkreis.
Wir kamen zu dem Schluss, dass zwischen der Venus, dem Mars
und der Erde elektrische Entladungen stattfanden, als ihre
Atmosphäre bei nahen Begegnungen in Kontakt kamen, dass die
Magnetpole der Erde vor nur wenigen tausend Jahren vertauscht
wurden, und dass mit der Veränderung der Mondbahn eine
wiederholte Änderung der Länge des Monats einherging. In den
700 Jahren zwischen der Mitte des 2. Jahrtausends und dem 8.
Jahrhundert vor der Zeitwende bestand das Jahr aus 360 Tagen
und der Monat aus fast genau 30 Tagen, während zuvor der Tag,
der Monat und das Jahr wieder andere Längen hatten."
(Velikovsky, Seite 393 f.)
Eine solche Phantastik steht außerhalb des Rahmens jeglicher wissenschaftlicher Diskussion, und Velikovsky wird deswegen auch von der "Schul-Astronomie" ebenso wie die Astrologie und Ufologie einfach nicht ernst genommen. Dass kosmische Katastrophen vorkommen, wird von der modernen Astronomie seit langem schon nicht mehr geleugnet (im Gegenteil, dank den Mitteln der Fotografie, der Satelliten und der Computer mittlerweile sogar eindrucksvoll visualisiert), dass aber die Venus einmal als davongelaufener Komet des Jupiters vor ein paar tausend Jahren das irdische Geschehen völlig durcheinander brachte oder die Erde gar nur ein paar tausend (Zillmer) oder zehn- bzw. hunderttausend Jahre alt ist (Illig), liegt tatsächlich außerhalb des Bewusstseinshorizonts jeder halbwegs seriösen wissenschaftlichen Forschung.
Warum gehe ich so ausführlich auf Velikovsky ein, wenn es doch eigentlich um die These Illigs von der mittelalterlichen Phantomzeit geht? Weil ich mich in einem Punkt geirrt habe: Ich bin nämlich anfangs in meinem "Offenen Brief" davon ausgegangen, dass es sich bei der These von der dreihundertjährigen Phantomzeit um einen vereinzelten und durchaus noch mit Illig auszudiskutierbaren Streitpunkt handelt, der unter Hinzuziehung der sonstigen geschichtlichen Überlieferungen und der wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Kenntnisse, zu einer Klärung gebracht werden könnte. Mittlerweile sehe ich aber ein, dass Illig und seine "Zeitensprüngler" nicht nur eine mittelalterliche "Phantomzeit" und einige sonstige kleinere Korrekturen in der Chronologie des alten Ägyptens und Mesopotamiens vertreten, sondern dass derartige Thesen nur die Vorhut eines vorwissenschaftlichen Weltbilds sind. Wer sich darauf einlässt, wird bald mit Kreationisten und Ufologen an einem Tisch sitzen. Wenn es gerade ins Konzept passt, dann wird für die "Tatsachen" und "Beweise" zwar gerne auch einmal so was wie die "Präzession" in den Mund genommen (ohne sie zu begreifen), aber sofort wieder als "schulwissenschaftlich" verworfen, wenn sich die "Beweise" gegen die Beweisler wenden. Im Zweifelsfall gab es dann eben eine durch Merkur, Venus, Mars, Jupiter oder Saturn verursachte Katastrophe, die die Sonne zum Stillstand brachte (siehe den Untertitel von Velikovskys Buch).
Bei einem derartig katastrophalen Denken wird man wohl kaum eine gemeinsame Diskussionsbasis finden. Es wird ja eigentlich alles, was die etablierten Wissenschaften bisher hervorbrachten, in Frage gestellt. Immerhin, indem sich Illig gelegentlich auf herkömmliche Konzepte einlässt, kann man diese wenigstens als Basis hernehmen und damit ins Detail zu gehen versuchen. Wenn er etwa seine "Beweise" anhand der Kalenderreformen seit Cäsar führen will, dann erkennt Illig immerhin an, dass auch die dafür grundlegenden astronomischen Bewegungen und Parameter weitgehend konstant geblieben sind und die Erde nicht durch eine kosmische Katastrophe aus ihrer Bahn geworfen wurde, wir also astronomisch argumentieren "dürfen". Und so versichert uns Illig, dass "nicht zu erkennen (ist), dass die Erde im fraglichen Zeitraum einen derartig großen Stoß erhalten hätte, dass sie anders 'ticken' würde. Gedacht ist hier durchaus an große Bahnbeeinträchtigungen durch außerirdische Massen." (Illig, Seite 42)
Was aber, wenn sich die Illigschen "Beweise" umkehrten? Uwe Topper, ebenfalls "Zeitensprüngler" (allerdings mittlerweile mit Illig zerstritten, siehe "Tropfen, Fass und Überlauf" von Heribert Illig in Zeitensprünge 4/98, Seite 631f.), erwägt zumindest: "Vor allem ist es Christoph Marx, der von Velikovksy ausgehend auf plötzliche Bewegungssprünge bei den Planeten hinweist und einen 'letzten großen Ruck im Jahr 1348' annimmt: Alle davorliegenden astronomischen Angaben wären für uns unbrauchbar, da sie andere Koordinaten der Erdbahn enthielten. Der akademischen Wissenschaft ist dies seit Generationen ein äußerst unangenehmes Thema, wie Christian Blöss (1991) feststellen musste." (Topper, Seite 71.) Topper lehnt zwar diesen Erdsprung von 1348 letzlich doch ab, hat er doch ein paar Seiten vorher gezeigt, dass die Spika zur Zeit des Augustus "bei Frühlingsanfang um Mitternacht genau im Süden stand (180 Grad)", womit "also der erste astronomische Hinweis vor(liegt), der eine Verkürzung des Zeitabstands um rund drei Jahrhunderte erforderlich macht." (ebenda, Seite 70) - ein "Hinweis", der natürlich hinfällig wäre, wenn seitdem die Erde aus ihrer Bahn geworfen worden wäre. Dass aus einem "genau im Süden stehend" freilich keine ekliptikale Länge von 180 (oder 0) Grad folgt und deshalb die Überlegung Toppers astronomisch falsch ist, habe ich bereits in meinem "Nachtrag zum offenen Brief" gezeigt. Insofern könnte das Argument, dass vielleicht eine kosmische Katastrophe von 1348 sowieso alle vorherigen astronomischen und chronologischen Berechnungen wertlos machte, bei den "Zeitensprünglern" doch wieder mehr an Bedeutung gewinnen.
München, im Dezember 1999
Anders, Siegfried: Weil die Erde rotiert, Thun und Frankfurt am Main 1985 (Deutsch Taschenbücher).
Buchner, Edmund: Die Sonnenuhr des Augustus, Mainz 1982.
Illig, Heribert: Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden, München 1999 (Econ & List). (Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle von mir genannten Seitenangaben auf dieses Buch.)
Gadow, Gerhard: Erinnerungen an die Wirklichkeit - Erich von Däniken und seine Quellen, Frankfurt am Main 1971.
Laskar, Jacques: Der Mond und die Stabilität des Erdklimas, Spektrum der Wissenschaft 9/1993. Ein von Laskar beschriebener diffiziler Effekt ist z.B. der, dass infolge des Zusammenspiels von ellipsenförmiger Erdbahn und Präzession sich in 13000 Jahren das Verhältnis, wonach die Erde, wenn es auf der Nordhalbkugel Winter ist, sich derzeit am sonnennächsten Punkt (im Perihel) befindet und damit der winterliche Effekt gemindert wird, dies sich dann "zugunsten" der Südhalbkugel umkehren wird.
Schaldach, Karlheinz: Römische Sonnenuhren, Thun und Frankfurt am Main 1998 (Harri Deutsch).
Schneider, Carl: Geistesgeschichte der christlichen Antike, München 1978.
Seleschnikow, Semjon Issakowitsch: Wieviel Monde hat ein Jahr? Kleine Kalenderkunde, Moskau und Leipzig 1981.
Topper, Uwe: Erfundene Geschichte, Unsere Zeitrechnung ist falsch, München 1999 (Herbig).
Velikovsky, Immanuel: Welten im Zusammenstoss. Als die Sonne still stand, Stuttgart/Zürich 1953 (4. Auflage).
Zinner, Ernst: Sternglaube und Sternforschung, Freiburg und München 1953.