CHRISTOPH MARX ILLIG GOETHE

Die Uranus-Katastrophe während der Goethe-Zeit

von Franz Krojer

"Ziehvater Illig" (Müller, Seite 529) ist zwar der bekannteste Katastrophist unserer Tage im deutschsprachigen Raum; dennoch sollte man sich klar machen, dass es sich um eine breite und schon lange existierende velikovskianische Bewegung mit vielen Facetten, schöpferischen Impulsen und durchaus auch widersprüchlichen Ansichten handelt, mit einigem angesammelten Detailwissen, was schon mancher Illig-Gegner unterschätzt hat.

"Die ersten Vorstöße über Velikovsky hinaus machten Christoph Marx und Gunnar Heinsohn ... Marx gründete das Podium Akademische Freiheit (P.A.F.), in dem beide zusammen bereits 1982 (dat. 81) über die Revolution Echnatons - die bis heute Objekt von Spekulationen geblieben ist - ein Heft herausgaben. Weitere Hefte folgten. Von beiden Autoren gingen im deutschen Sprachraum die ersten Bemühungen aus, die Bewahrung katastrophistischer Vergangenheit in der Sprache als wichtigstem Erinnerungsspeicher der Menschheit aufzuzeigen." (Müller, Seite 528)

Ein weiterer Vorstoß: "Vor allem ist es Christoph Marx, der von Velikovsky ausgehend auf plötzliche Bewegungssprünge bei den Planeten hinweist und einen 'letzten großen Ruck im Jahr 1348' annimmt: Alle davorliegenden astronomischen Angaben wären für uns unbrauchbar, da sie andere Koordinaten der Erdbahn enthielten. Der akademischen Wissenschaft ist dies seit Generationen ein äußerst unangenehmes Thema, wie Christian Blöss (1991) feststellen mußte." (Topper, Seite 71)

"Marx c/o PAF" erläuterte am 14.7. und 18.7.2000 im Internet-Forum de.sci.geschichte, was Mitte des 14. Jahrhunderts passiert sein musste: "Die 'kleine Eiszeit' machte sich bemerkbar, Grünland wurde von immensen Eisschichten zugedeckt, fluchtartig hatten ganze Völker ihre im Permafrost vereisenden Heimatgebiete verlassen, aus einer vor dem Trecento liegenden Zeit gerettete Seekarten zeigen enorm veränderte Inselpopulationen & Kontinentalküsten. '1'348 vernichtete *weltweit* der Schwarze Tod 1 bis 2 Drittel der Weltbevölkerung, ein laut den zeitgenössischen Quellen aus der Luft hereingebrochenes Phänomen (bitte nicht mit lächerlichen neowissenschaftlichen Rattentheorien Zeit zu verschwenden)."

Die Schiefe der Ekliptik, die bei Ptolemäus mit 10 Bogenminuten zu groß angegeben ist (nach heutigen Rückrechnungen, siehe auch Almagest I,12 bzw. Toomer, Seite 63), aber auch die Präzessionskonstante, die Ptolemäus zu klein annimmt (1 Grad in 100 anstatt in 72 Jahren), werden von Marx als tatsächlich gemessen interpretiert; im 16. Jahrhundert seien dann ganz andere, mit den heutigen Rückrechnungen passende Werte festgestellt worden.

"Da die Erde solche Veränderungen - verrücken ihrer Rotationsachse - natürlich nicht aus eigenem Antrieb veranstalten kann, konnte es nur durch exoterrestrische Beeinflussung erfolgt sein, dh durch Vorgänge im Planetensystem resp 'irrende' Planetenbewegungen", wobei "leicht einzusehen, dass es sich bei den zuletzt irrenden Planeten um Venus & Merkur (aus Isis & Horuskind resp Madonna & Jesuskind) handelt." Und: "Die gegenwärtige Präzession ist nicht älter als ca 650 Jahre: davor hatte sie mehrmals einen anderen Wert; & wie schief die Ekliptik in einigen Hundert Jahren sein wird, weiß auch niemand."

Folgend eine Tabelle mit überlieferten Werten für die Schiefe der Ekliptik, um diesen "Letzten Großen Ruck" (LGR), der 1348 laut Marx stattgefunden haben soll, zu überprüfen.

      Jahr Name          Überliefert  Berechnet  Differenz Literatur

      -500 Anaximander      24         23,77     0.23 Schaldach, S. 62
      -200 Erathostenes     23,85      23,73     0.12 Almagest I, 12
      -150 Hipparchos       23,72      23,72     0.00 Waerden, S. 174
       150 Ptolemaeus       23,85      23,68     0.17 Almagest, I, 12
       900 al-Battani       23,58      23,58     0.00 Zinner, S. 201
      1050 as-Zarqali       23,57      23,56     0.01 Zinner, S. 201
      1300 Jakob ben Machir 23,53      23,53     0.00 Zinner, S. 201
      1348 -- "Letzter Grosser Ruck (LGR)" --
      1500 Kopernikus       23,47      23,50    -0.03 Zinner, S. 203
      1600 Brahe            23,52      23,49     0.03 Zinner, S. 301
      2000 Heutiger Wert    23,44      23,44          Ahnert, S. 30

Und ein paar Anmerkungen:

1. Es werden Dezimalbrüche bei den Gradangaben verwendet, z.B. entsprechen 30 Bogenminuten 0,5 Grad. Die Jahresangaben sind gerundet auf die Lebensdaten der jeweiligen Beobachter angepasst.

2. Die berechneten Werte für die Änderung der Schiefe der Ekliptik wurden aus Ahnert entnommen.

3. In der griechischen und römischen Antike waren zwei Werte für die Ekliptikschiefe gebräuchlich, einmal ein gerundeter Wert von 24 Grad, der auf Anaximander zurückgehen soll und z.B. von Architekten beim Bau von Sonnenuhren verwendet wurde, zum anderen der Wert von 23,85 Grad, der auf Eratosthenes zurückgehen soll, und den Ptolemaeus verwendete. Aus Beobachtungen des Hipparchos kann aber sogar ein Wert für die von ihm verwendete Ekliptikschiefe abgeleitet werden, der sehr genau den heutigen Rückrechnungen entspricht.

4. Der von Ptolemäus verwendete Wert für die Ekliptikschiefe ist um 10 Bogenminuten zu groß. Das ist 1/6 Grad, entsprechend den kleinsten Gradgenauigkeiten, wie sie im Sternkatalog des Almagest verwendet werden. Aus diesem einen Wert macht Marx ein Riesen-Trara.

5. Al-Batani wurde im lateinischen Mittelalter auch als Albategnius bezeichnet, desgleichen as-Zarqali als Arzachel und Jakob ben Machir als Prophatius.

6. Die überlieferten Werte für die Ekliptikschiefe durch arabisch-sprachige und jüdische Astronomen zwischen 900 und 1300 widerlegen den angeblichen "Letzten Großen Ruck" von Marx eindeutig. In späterer Zeit "erfunden", etwa von Kopernikus, können diese Werte auch nicht sein, denn zu seiner Zeit war zwar schon bekannt, dass sich die Schiefe der Ekliptik irgendwie ändert, aber von exakten Rückrechnungen in Kenntnis der funktionalen Abhängigkeit der Ekliptikschiefe mit der Zeit war man noch weit entfernt. Marx hat sich eine Unstimmigkeit in der Überlieferung herausgezogen und völlig einseitig zur Grundlage seiner "Theorie" gemacht.

7. Interessant ist der von Brahe angegebene Wert für die Ekliptikschiefe. Obwohl Brahe ein weitaus besserer Vermesser als Kopernikus war, ist ihm bei der Messung der Ekliptikschiefe ein systematischer Fehler unterlaufen (siehe Zinner, Seite 301); Brahe glaubte jedoch, dass Kopernikus zu ungenau gemessen habe. Zwischen Kopernikus und Brahe hat der Wert der Ekliptikschiefe scheinbar zugenommen anstatt abzunehmen, woraus "psychoanalytischer Scharfsinn" (Marx) einen erneuten "Letzten Großen Ruck" ableiten mag.


Ich habe mich auch auf die Suche nach einer Katastrophe gemacht und bin überraschend schnell fündig geworden. Marx sagt, dass im 14. Jahrhundert eine "kleine Eiszeit" geherrscht habe. Auch die Goethe-Zeit, hatte ich in Erinnerung, wurde manchmal als "kleine Eiszeit" beschrieben. Also habe ich mir die Goethe-Zeit genauer angeschaut - und bin auf die Uranus-Katastrophe gestoßen.

Die "kleine Eiszeit" wird bestätigt: "Die Zahl der strengen Winter betrug von 1800 bis 1850 17, von 1850 bis 1940 nur sieben." (Schulze-Neuhoff, Seite 152.)

Ein Zeugnis des größten deutschen Dichters: "gar manche Zustände dieser Erdoberfläche würden nie zu erklären sein, wofern man nicht größere und kleinere Gebirgsstrecken aus der Atmosphäre herunterfallen und weite, breite Landschaften durch sie überdeckt werden lasse. Sie beriefen sich auf größere und kleinere Felsmassen, welche zerstreut in vielen Ländern umherliegend gefunden und sogar noch in unsern Tagen als von oben herabstürzend aufgelesen werden." (Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, Kapitel 9, Seite 261.) Von Gebirgen, die vom Himmel fielen, ist also die Rede und von Felsmassen, die noch immer von oben herabstürzen. Wann war das? "Jena 1807, 17. Mai. Morgens um halb sieben Uhr angefangen, von 'Wilhelm Meisters Wanderjahren' das erste Kapitel zu diktieren." (Goethe, Seite 519)

Das astronomische Ereignis zu dieser Zeit: Im Jahr 1801 wird der erste Planetoid, die Ceres, durch Guiseppe Piazzi entdeckt, kurz danach die Pallas, die Juno und am 29. März 1807 die Vesta: "man kann sich die Aufregung und Begeisterung der Astronomen über eine solche Flut von Entdeckungen zu Beginn eines neuen Jahrhunderts leicht vorstellen." (Ekrutt, Seite 10)

Das Rätsel: Die Vesta hat eine visuelle Helligkeit von 5,5 und ist mit dem bloßem Auge sichtbar, aber auch die anderen Planetoiden hätten eigentlich längst mit den seit zweihundert Jahren vorhandenen Teleskopen entdeckt werden müssen. Das wunderte auch schon die Zeitgenossen: "Wäre etwa der Comet von 1770 der so lange verborgen gebliebene Planet? Oder ist das Piazzi'sche Gestirn vielleicht der Comet von 1770? In beyden Fällen, der Weltkörper sey Planet oder Comet, warum ist er nicht öfters gesehen, und längst entdeckt worden?" (Brosche, Seite 130) Warum also ist er nicht längst entdeckt worden?

1781: Herrschel entdeckt den Planeten Uranus. Auch Uranus hat eine visuelle Helligkeit von 5,6, ist also wiederum schon mit dem bloßen Auge sichtbar. Auch hier wieder fragen sich schon die Zeitgenossen, "welche man bey Gelegenheit der Entdeckung des Uranus gemacht hat, warum man diesen Planeten nicht längst schon entdeckt hat". (Brosche, Seite 119) Warum also ist auch Uranus nicht längst entdeckt worden?

Die Lösung: Uranus und die Planetoiden konnten gar nicht früher entdeckt werden. Denn erst ca. 1750 geschah es: der Komet Uranus wurde von Jupiter in die eine Richtung ausgeschleudert und die vielen kleinen Planeten in die andere. Das war die von Goethe beschriebene Katastrophe, deren Nachwehen auch im Jahr 1807 noch zu spüren waren: Eiszeit und herabfallende Felsen.

Begleitet von apokalyptischen Ereignissen: die Große Französische Revolution, weltweite Kolonialkriege, der Antichrist (Napoleon).

Die Schulwissenschaft steht noch immer vor einem Rätsel: "Eine Besonderheit zeigt das Uranus-System, es ist sozusagen 'aus seiner Bahn gekippt'." (Voigt, Seite 55). "Offen ist nach wie vor die Frage, warum die Rotationsachse in der Bahnebene liegt." (Keppler, Seite 93)

Schließlich dieses: Die Ceres wurde am 1.1.1801, also am ersten Tag des Anbruchs eines neuen Jahrhunderts entdeckt. Zufall? Oder der Versuch, gar die Notwendigkeit mit dieser Epoche machenden Entdeckung auch eine neue Ära und einen neuen Kalender beginnen zu lassen? Frankreichs Revolutionskalender, Meter und Kilogramm somit die Suche nach dem "neuen Maß aller Dinge" (Guedji), da die alten Maße für Erde und Erdbahn nicht mehr stimmten?

Lächerlich und völlig indiskutabel? In 650 Jahren wird man darauf zurückkommen.

Literatur

Ahnert, Paul: Astronomisch chronologische Tafeln für Sonne, Mond und Planeten, Leipzig 1990 (7. Auflage).

Brosche, Peter: Astronomie der Goethezeit, Textsammlung aus Zeitschriften und Briefen Franz Xaver von Zachs, Thun und Frankfurt am Main 1995; hier: Die Entdeckung der Ceres, Monatliche Correspondenz Gotha 1801.

Ekrutt, Joachim W.: Die Kleinen Planeten, Planetoide und ihre Entdeckungsgeschiche, Stuttgart 1977.

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 8, München 1998 (dtv).

Guedji, Denis: Die Geburt des Meters Oder wie die beiden Astronomen Jean-Baptiste Delambre und Pierre Mƒchain aus dem Geist der Aufklärung in den Wirren der Französischen Revolution das neue Maß alle Dingen fanden, Frankfurt/Main 1991.

Keppler, Erhard: Sonne, Monde und Planeten, München 1990.

Müller, Angelika: Die Gottesanbeterin (Mantis) wird 10 Jahre alt!, Zeitensprünge 4/1998.

Schaldach, Karlheinz: Römische Sonnenuhren, Eine Einführung in die antike Genomik, Thun und Frankfurt/M. 1998.

Schulze-Neuhoff, Peter: ... und die Meteorologen haben doch recht, Wetterkunde für jedermann, München 1972.

Toomer, G. J.: Ptolemy's Almagest, Princeton 1998.

Topper, Uwe: Erfundene Geschichte, Unsere Zeitrechnung ist falsch, München 1999 (Herbig).

Voigt, Hans-Heinrich: Das Universum, Stuttgart 1994 (Reclam).

Waerden, B. L. van der: Die Astronomie der Griechen, Darmstadt 1988.

Zinner, Ernst: Entstehung und Ausbreitung der copernikanischen Lehre, München 1988 (2. Auflage)



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